Es soll ein freundlicher Frühherbsttag gewesen sein, der 2. Oktober 1967. An diesem Tag standen Zehntausende Berliner am Straßenrand Spalier, um einer alten Dame die letzte Referenz zu erweisen. Die „55“ hatte sich vormittags in Hakenfelde in Spandau ein letztes Mal auf ihren Schienenweg in Richtung Innenstadt gemacht. Bimmelnd und quietschend ging es unter anderem über die Otto-Suhr-Allee bis zum Richard-Wagner-Platz. Begleitet wurden die beiden Triebwagen von einem Korso historischer Fahrzeuge.
Einerseits herrschte Volksfeststimmung, andererseits lag Wehmut in der Luft, erinnert sich Zeitzeuge Sigurd Hilkenbach in der aktuellen Ausgabe der „Berliner Verkehrsblätter“. Am Betriebshof Charlottenburg an der Königin-Elisabeth-Straße endete schließlich die Fahrt der „55“ – und mit ihr eine ganze Ära. Zumindest im Westteil der Stadt wurde die „Elektrische“, wie die Berliner die Straßenbahn meist liebevoll nannten (Tram sagte damals kein Mensch), endgültig aufs Abstellgleis geschoben.
Dabei war Berlin noch 40 Jahre zuvor die Straßenbahn-Metropole in der Welt. Die „Elektrische“ hatte in der Stadt nicht nur ihre Ursprünge (im Mai 1881 fuhr der erste strombetriebene Wagen durch Lichterfelde), sie bestimmte auch das Stadtbild wie kein anderes Fortbewegungsmittel. Die große Blütezeit war Ende der 1920er-Jahre: 634 Kilometer lang war 1930 das Schienennetz, 2119 Triebwagen und 1826 Anhängerwagen rumpelten damals über die Gleise und beförderten mehr als 720 Millionen Fahrgäste.
Mitte der 50er-Jahre waren alle Linien unterbrochen
Nach den schweren Schäden des Zweiten Weltkriegs haben die Berliner zunächst viel Kraft und Ressourcen dafür eingesetzt, das zu mehr als 80 Prozent zerstörte Straßenbahnnetz wieder aufzubauen. Doch schon weit vor dem Mauerbau wurden die Verkehrsbetriebe in Ost und West geteilt. Das sollten gerade die Nutzer der Straßenbahn zu spüren bekommen. Bereits Mitte der 50er-Jahre waren faktisch alle Linien an den Sektorengrenzen unterbrochen. Was zu geradezu grotesken Szenen führte. Nicht nur, dass je nach Einstiegsort die Fahrt mal mit Westmark, mal mit der Ostzonen-Währung bezahlt werden musste. Viele Strecken wurden zudem willkürlich unterbrochen. So fuhr etwa die Linie 74 von Weißensee nur noch bis an den Potsdamer Platz heran. Wer weiterfahren wolle, musste zu Fuß über den Platz laufen und die Kontrollen passieren, um dann im Westteil der Stadt in eine Straßenbahn mit derselben Liniennummer in Richtung Lichterfelde weiterzufahren. Der Mauerbau im August 1961 zementierte die Spaltung der Stadt – und die der Straßenbahn.
Doch deren Ende im Westen stand schon vorher fest. Nachdem 1947 ein damals noch Gesamtberliner Magistrat die Straßenbahn als wichtigstes Verkehrsmittel für die künftige Stadtentwicklung ansah, stellte der spätere West-Berliner Senat die Weichen in eine ganz andere Richtung. Die Stadt sollte – nach dem Vorbild der großen amerikanischen Metropolen – autogerecht umgestaltet werden. Für die immer größere Zahl an VW Käfer, Opel Kadett und Mercedes-Limousinen wurden vor allem breite Schnellstraßen benötigt und Parkplätze gebraucht. Gleise im Pflaster und Strommasten am Straßenrand störten da ebenso wie Abstellanlagen für die Bahnen an den Endhaltestellen. Bereits 1953 beschloss der Senat, kein Geld mehr für die Anschaffung neuer Straßenbahnen auszugeben. Stattdessen wurden riesige Millionenbeträge in den Bau neuer U-Bahn-Strecken investiert. Der öffentliche Nahverkehr sollte weitgehend unter der Erde verschwinden, damit die Symbole der Wirtschaftswunderzeit genügend Platz hatten. 1965 verkündete der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD): „Die Straßenbahn in Berlin ist zum Aussterben verurteilt.“
Auch im Osten sollte die Straßenbahn aus der Innenstadt verschwinden
Im Ostteil der Stadt durfte, oder besser musste die Straßenbahn weiterfahren. Nicht unbedingt aus verkehrspolitischer Einsicht. Auch dort wurden Pläne für eine autogerechte Stadt vorangetrieben. Vor allem aus der Innenstadt sollte die Straßenbahn möglichst verschwinden. Das wurde auch praktisch umgesetzt: Der Alexanderplatz, einst ein Knotenpunkt für zahlreiche Tramlinien, wurde 1968/69 straßenbahnfrei, ab 1970 fuhren auch keine Bahnen mehr über die Leipziger Straße. Doch am Ende fehlte der DDR das Geld und vor allem die Baukapazitäten, um etwa mit neuen U-Bahn-Strecken einen leistungsfähigen Ersatz für die Straßenbahn schaffen zu können. Mit dem U-Bahnhof „Tierpark“ kam in 40 Jahren DDR lediglich eine einzige unterirdische Station dazu, der Rest der nach Hönow verlängerten Linie E (heute U5) wurde aus Kostengründen überirdisch angelegt. Und für die neuen Plattenbaugebiete in Marzahn und Hellersdorf, die ab Mitte der 1970er-Jahre in großem Stil am Stadtrand aus dem Boden gestampft wurden, ließen die DDR-Oberen vor allem neue Gleisstrecken für die Straßenbahn bauen.
Bis heute ist die verkehrstechnische Teilung der Stadt in Berlin sichtbar. In den nunmehr 27 Jahren seit der Wiedervereinigung hat es die Straßenbahn gerade einmal an drei Stellen geschafft, wieder in den einstigen Westteil vorzudringen: 1995 wurden Gleise über die Bösebrücke von Prenzlauer Berg nach Wedding verlegt, zunächst auf der einst angestammten Strecke auf dem Mittelstreifen der Bornholmer und der Osloer Straße bis zum Louise-Schroeder-Platz, zwei Jahre später über die Seestraße bis zum Virchow-Klinikum. Zudem auf der Bernauer Straße am Mauerpark Richtung Nordbahnhof.
14 weitere Jahre sollten vergehen, bis der 2006 eröffnete Hauptbahnhof schließlich auch die geplante Anbindung mit der Straßenbahn erhielt.
20 neue Strecken bis 2021
Die Enkel von Willy Brandt haben das Todesurteil für die Straßenbahn aufgehoben. Vor allem auf Drängen der Grünen und der Linken nahm die vor einem Jahr gebildete neue rot-rot-grüne Koalition ein detailliertes Programm zum Ausbau des Tram-Netzes in ihr Regierungsprogramm auf. Dahinter steht das erklärte Ziel, mit einem attraktiven öffentlichen Nahverkehr mehr Menschen davon zu überzeugen, das Auto für die Wege durch die Stadt stehen zu lassen. Wie in kaum einem anderen Politikfeld wird die Koalition da sehr konkret: Mehr als 20 Strecken für die Straßenbahn werden in der Vereinbarung aufgelistet, die bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 gebaut, geplant oder zumindest vorbereitet werden sollen. Darunter mehrere Gleisverbindungen, die auch wieder in den einstigen Westteil der Stadt führen sollen.
Ganz oben auf der Liste stehen dabei vier Projekte, die bereits der rot-schwarze Vorgängersenat angeschoben hatte: die Verlängerung der Straßenbahn vom Hauptbahnhof zum U-Bahnhof Turmstraße, die Anbindung des Bahnhofs Ostkreuz, die weitere Erschließung des Wissenschaftsstandortes Adlershof durch eine neue Strecke zum S-Bahnhof Schöneweide (Adlershof II) und die Verlängerung der Tram bis zum S-Bahnhof Mahlsdorf.
Obwohl alle diese Projekte bereits Anfang 2015 vom damaligen Stadtentwicklungssenator und heutigen Innensenator Andreas Geisel (SPD) vorgestellt wurden, gibt es bislang kaum Fortschritte bei der Realisierung. Weil sich Senat und Bezirk bislang auf keine Streckenführung einigen konnten, steht die Tram-Verlängerung in Mahlsdorf derzeit nicht einmal in der Haushaltsplanung. Für die übrigen drei Vorhaben arbeitet die BVG im Auftrag des Senats an den Unterlagen für die sogenannte Planfeststellung. Diese sind die Grundlage für eine spätere Baugenehmigung. „Bislang geht das viel zu langsam“, monierte jüngst Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastverband Igeb das bisherige Bearbeitungstempo.
Finanzierung steht noch nicht komplett
Im Interesse eines rechtssicheren Verfahrens seien Schlusskorrekturen und redaktionelle Anpassungen notwendig, sagte Michael Tang, Sprecher von Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) der Berliner Morgenpost. Einige Gutachten müssten dafür überarbeitet werden. „Substanzielle Verzögerungen“ gebe es aber nicht. Die Senatsverwaltung gehe davon aus, dass die Verfahren für die Projekte Ostkreuz, Turmstraße und Adlershof II noch in diesem Jahr eröffnet werden. Ob die Zielvorgabe von Rot-Rot-Grün, alle vier Strecken noch in dieser Legislaturperiode in Betrieb zu nehmen, erreicht werden kann, gilt unter Experten als zweifelhaft. Auch die Finanzierung steht noch nicht komplett. Laut Tang sind für die Projekte Turmstraße, Ostkreuz und Adlershof II im Haushalt rund 50 Millionen Euro vorgesehen, der tatsächliche Finanzbedarf für alle drei Vorhaben liegt nach Informationen der Morgenpost jedoch bei 80 Millionen Euro.
Für drei weitere Tram-Projekte im Berliner Westen hat die Senatsverkehrsverwaltung inzwischen immerhin Voruntersuchungen gestartet. Dazu gehören ein Weiterbau der Gleise über die Turmstraße hinaus bis zum Mierendorffplatz und zum Bahnhof Jungfernheide und eine Verlängerung der Strecke vom U-Bahnhof Warschauer Straße bis zum Hermannplatz in Neukölln.
Nicht einmal richtig begonnen wurde mit dem größten Prestigeprojekt von Rot-Rot-Grün, der Verlängerung der Straßenbahn vom Alexanderplatz über Potsdamer Platz bis zum Kulturforum und später einmal bis zum Rathaus Steglitz. Von den 100 Kilometern neue Gleise für die Tram, die der Fahrgastverband und ein Bündnis von Umweltschutzorganisationen 2016 forderte, ist Berlin 50 Jahre nach dem Straßenbahn-Aus im Westteil der Stadt allerdings noch weit entfernt.
Einst das längste Straßenbahnnetz der Welt
Damals: Am 1. Januar 1929 wurde die Straßenbahn in die neu gegründete städtische Berliner Verkehrs-AG (BVG) überführt. 1930 betrieb die BVG in der Stadt 93 Straßenbahn-Linien und mit einer Gesamtlänge von 634 Kilometern. Mit rund 4000 Fahrzeugen beförderte sie insgesamt 721 Millionen Fahrgäste. Berlin verfügte damals über das längste Straßenbahnnetz der Welt.
Teilung: Noch vor dem Mauerbau 1961 wurden in Berlin die Nahverkehrsbetriebe in Ost und West getrennt. Die BVG-West unterhielt 1958 immerhin noch ein 230 Kilometer langes Straßenbahnnetz, auf 29 Linien waren damals knapp 263 Millionen Fahrgäste unterwegs.
Heute: Aktuell ist das Straßenbahnnetz in Berlin 193 Kilometer lang. Das Tramnetz soll damit noch das drittlängste in der Welt (nach Melbourne und St. Petersburg) sein. Die BVG betreibt derzeit 22 Linien und verfügt über 336 Fahrzeuge, darunter 146 moderne Flexity-Bahnen. 2016 nutzten knapp 194 Millionen Fahrgäste die Straßenbahn und waren im Durchschnitt mit einer Geschwindigkeit von 19 Kilometern pro Stunde unterwegs.