Die Ermittler des Staatsschutzes beim Landeskriminalamt haben den späteren Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri offenbar eigenmächtig im Nachhinein zu einem Kleinkriminellen erklärt. Dabei war er tatsächlich auch schon vor dem Massenmord an zwölf Menschen ein Straftäter, gegen den ein Haftbefehl hätte erwirkt werden können.
In einem auf den 1. November 2016 datierten Bericht eines Kriminaloberkommissars, der die abgehörten Telefonate Amris auswertet, wird Amri beschrieben als jemand, der „möglicherweise Kleinsthandel mit Betäubungs-mitteln“ begangen habe. So steht es in den Unterlagen, die der Berliner Morgenpost und dem RBB vorliegen. Ob es aber in den abgehörten Gesprächen tatsächlich um Drogen gegangen war, sei in den meisten Fällen „schwierig bis unmöglich“ zuzuordnen.
Tatsächlich wusste das LKA es besser. Denn der Beamte verfasste diesen Bericht am 17. Januar 2017, fast einen Monat nach dem Anschlag und datierte ihn zurück, mit dem gleichen Aktenzeichen. Sonderermittler Bruno Jost ist es aber gelungen, die Originalakte zu finden, die in den Polizeicomputern erhalten geblieben war. In dem eigentlichen Bericht, der tatsächlich am 1. November 2016 verfasst wurde, ist von „gewerbsmäßigen Handel“ mit Betäubungsmitteln die Rede.
Der Innensenator hat Konsequenzen angekündigt
Ein gewichtiger Unterschied für die Bewertung des Falles: Denn bei gewerbsmäßigem Drogenhandel hätte der Staatsschutz-Ermittler den Vorgang an die Staatsanwaltschaft weiterleiten müssen. „Das hätte ausgereicht für einen Haftbefehl“, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Donnerstag im Abgeordnetenhaus.
Nach der Anzeige des Senats gegen das Landeskriminalamt ermittelt die Staatsanwaltschaft nun gegen zwei Kommissare, denen die Fälschung zur last gelegt wird. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, droht den Beamten eine Verurteilung wegen Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung. Noch unklar ist, ob es Mitwisser gab.
Der Innensenator hat Konsequenzen angekündigt. Damit meint er offenbar zunächst die Ablösung von LKA-Chef Christian Steiof, die er in einem Kreis von Koalitionspolitikern ankündigte. Im Interview mit der Berliner Morgenpost spricht Polizeipräsident Klaus Kandt von „schwerwiegenden Vorwürfen“.
Das Landeskriminalamt steht nicht zum ersten Mal in der Kritik
Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) war zuletzt verstärkt in die Kritik geraten. Neben der mutmaßlichen Vertuschungsaktion im Fall Amri gab es bereits fraktionsübergreifendes Kopfschütteln im Umgang mit der Spitzelliste des türkischen Geheimdienstes, die vier Wochen in der 3500-Mitarbeiter-Behörde herumlag und nicht dem Innensenator übermittelt wurde – obwohl darauf auch zahlreiche Berliner zu finden waren. Auch in der V-Mann-Affäre rund um die Terrorgruppe NSU machte das LKA nicht die beste Figur. Wichtige Informationen eines V-Mannes sollen hier nicht weitergeleitet worden sein, beklagte die Polizei in Thüringen bereits 2013.
Doch wie ist die verschwiegene Behörde von LKA-Chef Christian Steiof eigentlich strukturiert? Wann immer in Berlin ein spektakuläres Verbrechen begangen wird, heißt es in den entsprechenden Mitteilungen der Polizeipressestelle: Die Ermittlungen hat ein Fachkommissariat des Landeskriminalamtes übernommen. Diese Zuständigkeit für Ermittlungen verleiht dem Hauptstadt-LKA einen besonderen Status. In den anderen Bundesländern sind die örtlichen Polizeibehörden grundsätzlich für alle Ermittlungen zuständig, die Landeskriminalämter werden üblicherweise nur in besonderen Fällen unterstützend tätig. Das LKA Berlin dagegen ermittelt direkt und alleinverantwortlich.
Die kriminalpolizeiliche Arbeit kann störungsanfällig sein
Das Amt wurde in den vergangenen 20 Jahren mehrfach reformiert. Die Grundstrukturen jedoch sind im wesentlichen gleich geblieben. Aktuell gliedert sich das LKA in acht Abteilungen, diese in Dezernate, denen wiederum Kommissariate angehören. Die Zuständigkeit der einzelnen Abteilungen ist deliktsbezogen. So behandelt Abteilung 1 (Delikte an Menschen) Tötungs- und Sexualdelikte, hier sind unter anderem die Mordkommissionen angegliedert. Abteilung 4 kümmert sich um die organisierte Kriminalität und Abteilung 5 um Staatsschutzdelikte von extremistischer Propaganda bis zum Terroranschlag. In weiteren Abteilungen finden sich die gesamte Kriminaltechnik und die Spezialeinheiten.
Die in Berlin geltende Organisation kriminalpolizeilicher Arbeit kann durchaus störungsanfällig sein und Pannen verursachen. Denn das LKA steht nicht allein, zu jeder der sechs Direktionen gehört ein Referat Verbrechensbekämpfung, quasi die örtliche Kripo. Wenn es nicht gerade um Mord oder Terroranschläge geht, können sich Zuständigkeiten auch schon mal überschneiden.
Eifersüchteleien zwischen einzelnen Dienststellen sind nichts besonders
Bei schweren Raubdelikten ermittelt das LKA, einfache Raubtaten übernimmt die örtliche Kripo. Doppelte Zuständigkeiten gibt es auch bei der Bekämpfung von Einbrüchen oder dem Drogenhandel. Auf dem Papier ist präzise geregelt, wer wann zuständig ist, in der Praxis erweisen sich die Grenzen bei großzügiger Auslegung des Ermessensspielraums schon mal fließend.
Eifersüchteleien zwischen einzelnen Dienststellen sind nichts besonders. So gehören V-Leute zum unverzichtbaren Bestandteil von LKA-Ermittlern im Bereich der organisierten Kriminalität. Aber auch die Fahndungsgruppen und szenekundigen Beamten in den Direktionen haben ihre Informanten und Quellen. Wer V-Mann und wer „nur“ Informant ist, ließ sich lange Zeit nur schwer feststellen.
Vertuschung im Fall Amri - Suche nach den Verantwortlichen
„Ich versichere Ihnen: So etwas wird sich nicht wiederholen“
Berliner Politiker sehen Vertrauen in Polizei erschüttert
Berliner LKA wird mit Fall Amri selbst zum Sicherheitsrisiko