„Wie oft muss ich mich mit meinem Flüchtlingsfreund treffen, bis er nicht mehr mein ‚Flüchtlings‘-Freund ist?“ Eine gute Frage – sie lässt Aubrey Wade nicht los. Ein Bekannter warf sie neulich in den Raum. Wades Lösung für das Problem: Am besten zusammenziehen. Viele Berliner Familien, WGs oder Einzelpersonen haben im vergangenen Jahr Flüchtlinge bei sich aufgenommen. Aubrey Wade fotografiert für das Projekt mit dem zweideutigen Titel „No Stranger Place“ solche neuen Wahlfamilien. „Bei No Stranger Place geht es um Beziehungen“, fasst Wade seine Arbeit zusammen. Um Beziehungen, die zunächst fremde Menschen miteinander eingehen. Um das, was geschieht, wenn Menschen aus Vertrauen heraus und nicht aus Angst reagieren. Denn Vertrauen braucht es, um einen Unbekannten bei sich einziehen zu lassen.
Interaktiv: So leben Flüchtlinge in Berlin
In seiner Wohnung im Prenzlauer Berg erzählt Wade, wie alles begann. Wie er im Sommer vergangenen Jahres mit Freunden eine Antwort gesucht hat auf das, was passierte. Die Warteschlangen vor dem Lageso, die überfüllten Notunterkünfte, das Mediengewitter. „All das ließ mich auch über meine eigene Ankunft in Berlin neu nachdenken“, erzählt der Brite, der wenige Wochen vor der ersten großen Flüchtlingswelle von London nach Berlin zu seiner Freundin zog.
Berührt von dem Maß an Hilfsbereitschaft, das sie vor allem in ihrem Viertel in unmittelbarer Nähe zur Turnhalle in der Winsstraße zu spüren bekamen, nahm das Paar eine afghanische Familie bei sich auf. Eine kurze, intensive Zeit war das, fordernd und sehr bereichernd. Sie brachte Wade zum Nachdenken. Was könnte er als Fotograf darüber hinaus tun, das multiplikatorisch wirkt, mehr als nur einigen wenigen Menschen hilft?
Der Flüchtling ist auf den Bildern oft nicht zu erkennen
Zusammen mit seiner Freundin Sarah Böttcher und dem gemeinsamen Freund Stjepan Sedlar, ebenfalls Fotograf, entwickelten sie das Konzept von No Stranger Place. Auch getragen von dem Wunsch, dem medialen Gewitter eine mäßigende Konstante entgegenzusetzen – ruhige, unaufgeregte, familiäre Bilder sollten es werden. Sie sollten Menschen zeigen, mit denen sich jeder identifizieren kann.
Dieser Effekt geht so weit, dass es oft schwierig ist, auf den sorgfältig komponierten Bildern „den Flüchtling“ zu erkennen. Dabei ist das Spektrum der Fotos sehr weit. Einerseits das wohlsituierte Paar im Prenzlauer Berg, andererseits die Marzahnerin in ihrer 30-Quadratmeter-Wohnung, die trotz wiederholter Anfeindungen ihrer Nachbarn immer wieder den Namen ihres neuen Mitbewohners auf den Briefkasten klebt.
Oder die Jellineks. „Ein Sohn zog aus, ein anderer ein“, beschreibt Kyra Jellinek den Moment, als Kinan Al-Kudeh im November vergangenen Jahres bei ihnen einzog. Ihr ältester Sohn Béla zog aus, es gab ein freies Zimmer bei der sechsköpfigen Familie. Für Kyra und ihren Mann Chaim, beide engagiert in der Flüchtlingshilfe, war nach kurzer Überlegung klar, was mit dem Raum passieren soll.
„Anfangs machte ich mir natürlich Gedanken“, erzählt Kyra und zieht nachdenklich an ihrer Zigarette. „Jemand völlig Fremdes, der die Sprache nicht kann. Wie klärt man Basics? Am ersten Abend saßen wir auf dem Sofa und haben uns nett angelächelt.“ Doch die anfängliche Befangenheit wich schnell einer Atmosphäre von familiärer Selbstverständlichkeit. Der 28-jährige Damaszener, seit bald anderthalb Jahren in Berlin, ist aus der Wohnung in der Leipziger Straße nicht mehr wegzudenken.
„Ich kann schon Marhaba, Salam und Yalla!“ Dem zwölfjährigen Joshy schwellt die Brust beim Abendbrot. Es gibt Spaghetti, Kinan hat gekocht. „Er gehört halt zur Familie. Es ist schön, jeden Tag einen Kumpel dazuhaben“, sagt Joshys Schwester Lily, neun Jahre alt. Als Kyra abräumen will, drückt Kinan sie mit Gesten zurück in den Stuhl und ruft „You comfort!“ Alle lachen. Kinan könnte problemlos auch „Bleib bitte sitzen!“ sagen, mittlerweile lernt er Deutsch im Fortgeschrittenenkurs. Aber „You comfort!“ stammt noch aus seiner Anfangszeit, es ist zur stehenden Rede geworden. Es sind diese Momente, die deutlich machen: Hier sitzt eine Familie beim Abendbrot. Nicht mehr und nicht weniger. „Ich hatte vorher Angst, sie verstehen mich nicht, und dass ich mich fremd fühlen würde“, erzählt Kinan nach dem Essen auf dem Balkon. „Jetzt sind sie meine Familie. Ich liebe und verstehe alle.“ Es reichen zehn Minuten mit diesen durchweg sympathischen Menschen, um sich etwas zu schämen für die so abgedroschene Frage, die da noch auf dem Zettel steht. Aber sie gehört dazu, also: Muslimischer Syrer? Jüdische Familie? Friede, Freude Eierkuchen? „Wir haben Kinan gleich gesagt, wer wir sind“, sagt Chaim Jellinek. Kinans Reaktion: „Euer Ding.“ Damit war die Sache vom Tisch. Für Chaim ist die wichtigste Erfahrung, dass es nichts Besonderes ist, einen Flüchtling aufzunehmen. „Wir haben einen neuen Mitbewohner – na und?“
Kinder profitieren am meisten vom Zusammenleben
Flüchtlinge und Einheimische zu porträtieren, die zusammenleben, erschien Aubrey Wade als ein sehr kraftvoller Weg, Menschen einen Zugang zu komplexen politischen Themen wie der Flüchtlingskrise zu bieten. Seit Februar wird das anfänglich unabhängige Projekt in Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk UNHCR fortgeführt und seitdem auch auf Österreich und Schweden ausgeweitet – die Länder, die neben Deutschland seit vergangenem Sommer die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Bald soll ein Buch entstehen, Ausstellungen finden statt. Über Weihnachten konnte man Wades Bilder im Wiener Westbahnhof sehen, jetzt kommen sie nach Berlin. No Stranger Place ist ein Langzeitprojekt, Aubrey Wade will die Porträtierten auf ihrem weiteren Lebensweg begleiten – ob in Berlin, in Syrien oder ganz woanders.
Den nachhaltigsten Effekt hat dieses Zusammenleben wohl auf die Kinder. Wade erzählt, wie sich zwei kleine, zu Mitbewohnern gewordene Jungs in kürzester Zeit gegenseitig Arabisch und Deutsch beigebracht haben. Oder, wie es der ebenfalls von Wade fotografierte Schriftsteller Edgar Rai zusammenfasst: „Ich hätte meinen Kindern nie das beibringen können, was sie durch das Zusammenleben mit Bilal und Amr gelernt haben.“
Die Ausstellung No Stranger Place wird vom 10. bis 21. Januar im Berliner Hauptbahnhof zu sehen sein.