Jubiläum in Kreuzberg

Die Wände in der Synagoge Fraenkelufer erzählen Geschichten

| Lesedauer: 5 Minuten
Christine Eichelmann
Junge Gemeinschaft: Dekel Peretz, Frauke Ohnholz, Nina Peretz und Sarah Behrnd (v.l.)

Junge Gemeinschaft: Dekel Peretz, Frauke Ohnholz, Nina Peretz und Sarah Behrnd (v.l.)

Foto: Reto Klar

Die Synagoge Fraenkelufer wird 100 Jahre alt. An Vitalität fehlt es ihr trotzdem nicht. Zum Jubiläum gibt es eine Ausstellung.

Im Sonnlicht wirken die blauen Säulen der neoklassizistischen Fassade, als hätten sie die Himmelsfarbe aufgesogen. Ganz still liegt der Garten. Meist jedenfalls, und ohnehin ist die Ruhe ein Trugbild. Lange nicht mehr war die Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg so von Betriebsamkeit erfüllt, gab es hier so viel Vitalität und Aufbruchsgeist.

„Ist das nicht schön, dass wir Geschichte feiern und gleichzeitig die Gegenwart so lebendig ist?“, fragt Nina Peretz. Zwei Geburten in der vergangenen Woche, am Wochenende dann eine Hochzeit. Um die Zukunft muss sich die eher kleine Synagoge unter den heute 11 Gotteshäusern der jüdischen Gemeinde zu Berlin nicht sorgen.

Kontakt in die multireligiöse Nachbarschaft

Von der Vergangenheit zeugt dagegen der Festakt, zu dem am Wochenende nicht nur die Gläubigen, sondern auch Vertreter aus Politik und Gesellschaft erwartet werden. Am 17. September 1916 fand in der auf einem Dreiecks-Grundstück zwischen dem damaligen Kottbusser Ufer und der Britzer Straße (heute Kohlfurter Straße) errichteten und an jenem Tag bis auf den letzten Platz gefüllten Synagoge die Weihefeier statt. Wegen der Berlin-Wahl am 18. September dieses Jahres feiert die Gemeinde das 100. Jubiläum bereits am Sonntag. Nach dem religiös-jüdischen Kalender ist es der erste Tag des sechsten Monats im Jahr 5776.

Nina Peretz und ihr Mann Dekel gehen seit sechs Jahren in die Synagoge Fraenkelufer. Um die 60 oder älter waren die meisten Beter dort anfangs, erinnert sich Nina Peretz. Das junge Paar, sie aus Schwaben, ihr Mann aus Marokko und in der Nachbarschaft zu Hause, kam trotzdem wieder. Zum Beten, aber inzwischen auch für immer mehr Gesellschaftsanlässe. Einer muss den Anfang machen, hatten sie gedacht und vor vier Jahren mit Freunden zum Abendessen beim freitäglichen Kabbalat Schabbat geladen. Seither gibt es das gemeinsame Essen jeden Monat, trifft man sich zur Segnung am nächsten Morgen, gibt es einen religiösen Gesprächskreis. Feiertage und persönliche Festtage werden gemeinsam begangen, die Kontakte in die bunte Kreuzberger Nachbarschaft mit starkem muslimischem Anteil werden gepflegt und ausgebaut.

Die Generation der Kinder bleibt nicht automatisch

Einen Film haben sie gedreht über das neue Gemeindeleben, bei Facebook berichten sie davon und ziehen so immer mehr, vor allem junge Neu-Berliner aus aller Welt an. „Sogar Freunde, die gar nicht so religiös sind. Viele sind ohne Verwandte in Berlin, und hier finden sie jenseits der Religion eine Art neue Familie“, sagt Frauke Ohnholz vom Verein der Freunde der Synagoge Fraenkelufer. So viele Nationalitäten sind in der ehemals orthodoxen Synagoge vereint, dass allein das zum Austausch einlädt. Zuletzt wurde Ende April zum Ausklang von Pessach nach nordafrikanischer Tradition mit „Muflettot“ genannten Pfannkuchen, Süßigkeiten und marokkanischer Musik gefeiert. Ohnholz: „Das Ganze funktioniert, weil es niemand von oben organisiert, weil es von innen heraus wächst.“

Natürlich sind da auch die älteren und alten Besucher der Synagoge. Menschen wie Meir Neumann, der unter den Nazis im Untergrund lebte und nach dem Krieg wieder in die Synagoge ging. Auch die Familie von Jonathan Marcus ist seit Generationen dem religiösen Zentrum am Fraenkelufer verbunden. Die Veränderungen, sagt der 35-Jährige, würden in der Familie begrüßt. „Alle haben ja gemerkt, es gibt keinen Automatismus, nach dem die Generation der Kinder wieder in die gleiche Synagoge kommt. Dafür ist Berlin nach der Wende zu groß geworden.“

Besuch bei einem der ältesten Zeitzeugen in Israel

Begünstigt wurde die Offenheit der Gemeinde für Eigeninitiative der Beter auch, weil sie seit dem Krieg keinen festen Rabbiner oder Kantor hat. Mal sandte die Jüdische Gemeinde zu Berlin liberale, mal orthodoxe Vertreter. Tatsächlich wird am Fraenkelufer ein traditioneller Ritus gepflegt. Die Frauen sitzen getrennt, streng orthodox aber geht es nicht zu. „Auf Gemeinsamkeiten achten statt auf Trennendes, das galt schon immer bei uns“, sagt Jonathan Marcus.

Wenn zum Essen zu Schabbat zwischen 20 und 100 Beter kämen, dann träfen sich die Generationen, dann werde auch die Synagogen-Politik gemacht, sagt Dekel Peretz. Mit den Älteren führten die Aktiven aus dem Freundeskreis anlässlich des Jubiläums Interviews und ließen sich aus der Vergangenheit der Synagoge erzählen. Das Ergebnis, für die Beter selbst eine Art großes Familienalbum, ist nach dem Festakt im Rahmen einer Ausstellung am Zaun sowie in Internetvideos zu sehen. Nicht alle Interviewten leben bis heute in Berlin. Peter Salomon zum Beispiel, der vom gemischt jüdisch-christlichen Hauswarts-Ehepaar der Synagoge in den 1940er-Jahren als Pflegekind aufgenommen worden war und heute in Israel lebt, besuchten Nina und Dekel Peretz dort. Am Sonntag wird auch er bei dem Festakt sein. „Früher“, sagt Nina Peretz, „war das hier einfach eine Synagoge. Jetzt stecken ganz viele Geschichten drin. Die Wände sprechen plötzlich mit mir.“