Vor der Rigaer Straße 94 knallten die ersten Sektkorken schon am Vormittag, unter den Augen der Polizei, die nach wie vor mit zahlreichen Mannschaftswagen vor Ort ist. Zwar war der Eingang des Hauses bis zum Abend noch mit Gittern versperrt, im Innern patrouilliert der Wachdienst. Doch auf der Straße dürfen wieder Autos fahren – oder es spielen dort die Kinder der Hausbewohner. Ein zwölfjähriges Mädchen erzählt, dass es seit Wochen nicht richtig schlafen könne wegen des permanenten Lärms auf der Straße, auch durch die Polizisten, die in ihren Mannschaftswagen mit laufendem Motor Wache hielten. „Ich hoffe, dass wir bald wieder normal spielen und auch Besuch bekommen können.“
Katerstimmung herrschte hingegen am Mittwoch in der Senatskanzlei. Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgte am 22. Juni der Polizeieinsatz im Haus Rigaer Straße 94? Zu dieser und anderen Fragen wurde die Spitze der Innenverwaltung kurzfristig um Antworten ersucht. Nach Informationen der Berliner Morgenpost will die Senatskanzlei unter anderem wissen, von wem und wann die Initiative zu dem Polizeieinsatz ausging, wer die Entscheidung für den Einsatz getroffen hat und wie der Hauseigentümer seine Bitte um Unterstützung durch Polizisten begründet hatte. Auch die Frage, wer geprüft hat, ob die Voraussetzungen für einen Einsatz der Polizei gegeben waren, obwohl kein Räumungstitel vorlag, ist ein Thema.
Grüne: Wahlkampftaktische Gründe von Frank Henkel
Bereits Minuten, nachdem Richterin Nicola Herbst ihr Urteil verkündet hatte, standen vor allem die Rolle und die Verantwortung von Innensenator Frank Henkel (CDU) für den Polizeieinsatz bei der Räumung im öffentlichen Fokus. Harsche Kritik kam von der Opposition. Hakan Taş (Linke) sah in dem Polizeieinsatz bei der Teilräumung des Gebäudes die alleinige Ursache der anschließend einsetzenden Eskalation einschließlich der Brandanschläge und Ausschreitungen bei der Demonstration am vergangenen Sonnabend. Und der Abgeordnete Christopher Lauer (ehemals Piraten) forderte zum wiederholten Mal den Rücktritt des Senators.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus, Ramona Pop, sagte: „Der Eindruck erhärtet sich, dass Henkel den Konflikt aus wahlkampftaktischen Gründen provoziert hat.“ Sie stellte die Frage, inwiefern er mit „seinem Wahlkampfgetöse“ die Gefährdung der Gesundheit von Polizisten billigend in Kauf genommen habe. Die Fraktion forderte eine umgehende Sondersitzung des Innenausschusses.
Henkel wies die Vorwürfe zurück. Rechtliche Grundlage für den Polizeieinsatz sei die Gefahrenabwehr gewesen. Bauarbeiter sollten geschützt werden. Ein Sprecher der Verwaltung sagte, es habe sich nicht um eine Räumung gehandelt. Henkel sei über den Polizeieinsatz informiert worden, habe ihn aber nicht angeordnet.
CDU-Fraktionschef Florian Graf verteidigte Henkel: „Das angekündigte Versäumnisurteil stellt keine Entscheidung in der Sache und auch nicht über die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes dar.“ Zugleich konterte Graf die Kritik der Grünen. „Irritierend ist, dass Grünen-Fraktionschefin Ramona Pop und die versammelte Opposition stumm blieben, als 123 Polizisten verletzt wurden, aber nur wenige Minuten brauchten, um nach dem Gerichtstermin und ohne die notwendige inhaltliche Prüfung der Abläufe grundlos auf den Innensenator einzudreschen“, so Graf.
Knapp fiel die Stellungnahme von Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) aus. „Wir waren nicht involviert und auch nicht zuständig, schließlich gibt es die Gewaltenteilung“, hieß es in seiner Erklärung. Die Polizei Berlin teilte mit, sie sei von der Hausverwaltung gebeten worden, Arbeiter bei „Maßnahmen im Gebäude“ zu schützen. Die Gefahren-Einschätzung der Hausverwaltung habe mit der „polizeilichen Lagebeurteilung“ übereingestimmt, der Schutz sei deshalb gewährt worden. Es habe keine polizeiliche Räumung stattgefunden.
Benjamin Jendro, Sprecher des Berliner Landesverbandes der Gewerkschaft der Polizei (GdP) nahm ausdrücklich die eingesetzten Beamten in Schutz. Senatsinnenverwaltung und Polizeibehörde müssten klären, wer Fehler gemacht habe, die eingesetzten Polizisten sicherlich nicht, sagte Jendro.
Staatsrechtler hingegen gehen davon aus, dass der Polizei bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit des Einsatzes tatsächlich ein Fehler passiert ist. „Die Polizei darf so etwas nicht auf Zuruf machen, sondern für die Unterstützung der Räumung wäre ein Räumungstitel des Eigentümers erforderlich gewesen“, sagt Oesten Baller, Professor für Polizeirecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR). HWR-Professor Clemens Arzt sieht es ähnlich: „Die Polizei hätte sich vergewissern müssen, warum es keinen Räumungstitel gibt.“ Die Rechtsgrundlage, so der Polizeirechtler Hartmut Aden, sei „äußerst zweifelhaft“ gewesen.
Unklar ist aber nach wie vor, wem das Haus Rigaer Straße 94 gehört. Am Gericht war die Firma Lafone Investments Limited als Antragsgegnerin genannt worden. Ihr Geschäftsführer war bis vor Kurzem der Londoner Steueranwalt John Richard Dewhurst. Er könne den Eigentümer nicht nennen, sagt er am Telefon und präzisiert dann per E-Mail: „Lafone Investments ist als Eigentümer des Gebäudes registriert, aber sie hält dieses als Bevollmächtigter [nominee] im Auftrag eines Mandanten. Aus diesem Grund habe ich keine Kenntnis von den jüngsten Ereignissen.“ Er sei als Geschäftsführer von Lafone Investments zurückgetreten und unterhalte keine weitere Verbindung zu der Gesellschaft. Dewhurst hatte die Lafone Investments Limited laut Handelsregister 2014 gegründet und sich als Geschäftsführer eingetragen. Am 8. Juli 2016 wurde er als Geschäftsführer gelöscht.
Die Ereignisse, von denen Dewhurst nach eigener Aussage „keine Kenntnis“ hat, sorgen in der Rigaer Straße weiter für aufgeheizte Stimmung. Wie aufgeheizt, zeigt ein Wortwechsel an einem Kiosk. Davor sitzen zwei Herren beim Bier, 45 und 51 Jahre alt. Sie wünschen sich, „dass das alles hier endlich vorbei ist“. Eigentlich hätten sie nichts gegen die Nachbarn aus der linken Szene. „Aber es kann nicht sein, dass hier am helllichten Tag Menschen Gehwegplatten ausbuddeln, um Polizisten damit zu bewerfen.“ Eine junge Frau mit Kinderwagen und zwei Kleinkindern an der Hand wirft in giftigem Ton ein: „Doch, das muss sogar so sein!“, und geht weiter.
Am Abend versammeln sich rund 200 Unterstützer zum rituellen Protest-Topfschlagen. Eine halbe Stunde dauert der Höllenlärm aus Fenstern, von Balkonen und auf der Straße. Bis Redaktionsschluss blieb die Situation in der Straße friedlich.