Prävention

Letzte Chance für radikalisierte Jugendliche in Berlin

| Lesedauer: 6 Minuten
Jens Anker
Thomas Mückes Dienste werden bundesweit angefragt

Thomas Mückes Dienste werden bundesweit angefragt

Foto: Thomas Mücke / BM

Der Pädagoge Thomas Mücke ist ein gefragter Mann: Er soll junge Männer vor dem Abdriften in den islamistischen Extremismus bewahren.

Wer zu Thomas Mücke will, muss sich nach Moabit aufmachen. Dritter Hinterhof, fünfte Etage. Hier unter dem Dach des alten Fabrikgeländes hat Mücke sein Büro. Der Pädagoge und Politologe ist zurzeit ein gefragter Mann, deshalb pendelt er zwischen Bayern, Hessen und Berlin. Viele Jahre lang hat Mücke Programme entwickelt, um Nazis vom Ex-tremismus abzuhalten. Derzeit ist er einer der gefragtesten Experten, um Jugendliche vor dem Abdriften in den islamistischen Extremismus zu bewahren. Das hessische Landesprogramm zur Bekämpfung des Extremismus hat er bereits aufgebaut, in Berlin ist er dabei und auch in Bayern soll er helfen.

Religiös motivierter Extremismus ist kein neues Phänomen. „Das war schon immer ein Thema“, sagt Mücke. „Früher hat man nur nichts dagegen getan.“ Das sei jetzt anders. Die Meldungen über Hunderte junge Männer und manchmal auch Frauen, die sich in wenigen Wochen von unscheinbaren Söhnen und Töchtern zu radikalen Muslimen wandeln und in die Krisengebiete des Nahen Ostens reisen, um die Terrorbanden des „Islamischen Staates“ zu unterstützen, haben auch in Berlin die Politik zum Umdenken gebracht. „Die Bundesländer stehen in der Pflicht zu handeln, sie haben den Zug abfahren lassen“, sagt Mücke.

Landesprogramm gegen religiös begründeten Salafismus

Nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes sind ungefähr 100 junge und radikalisierte Männer in den vergangenen Monaten aus Berlin in die Krisengebiete gereist, um sich an Kampfhandlungen zu beteiligen. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich weit darüber. Etwa 50 sind zurückgekehrt, desillusioniert oder von den Erlebnissen weiter radikalisiert.

Im April vergangenen Jahres beschloss der Senat deshalb, ein Landesprogramm gegen religiös begründeten Salafismus unter Federführung Thomas Mückes ins Leben zu rufen. Sein Verein Violance Prevention Network koordiniert den Aufbau und soll die verschiedenen Einzelprogramme zusammenzufassen. Es startete am 1. Januar. Für die kommenden beiden Jahre stellt der Senat jeweils 1,62 Millionen Euro dafür zur Verfügung. Für das Deradikalisierungsnetzwerk des Senats wurden zusätzlich 115.000 Euro bereitgestellt. Für 2016 und 2017 sind jeweils weitere 150.000 Euro eingeplant. Damit wird die von Violence Prevention Network (VPN) getragene Beratungsstelle „Kompass – Toleranz statt Extremismus“ mit drei Mitarbeitern für die kommenden beiden Jahre gesichert.

Mit 30 sogenannten Gefährdern ist Mückes Team in Berlin bislang ins Gespräch gekommen. Es sei aber noch zu früh, um über Erfolge zu sprechen. In Hessen waren es 70 potenziell radikalisierte Islamisten – bislang ist keiner abgerutscht. Das soll auch in Berlin nach Möglichkeit so sein. Denn die Erfolgsaussichten sind gut. „Wenn man Nazis ihre Ideologie nimmt, haben sie nichts mehr“, sagt Mücke. „Bei radikalen Islamisten ist das anders – ihnen bleibt der Islam.“ Wenn den Gefährdeten klar wird, dass die radikale Deutung der Islamisten nicht die einzig mögliche Interpretation ihrer Religion ist, dann öffnet sich für sie eine neue – friedliche – Welt des Islam. „Wir wollen sie nicht zu Atheisten machen, sondern vom Abrutschen in den Extremismus abbringen“, sagt Mücke. Und: „Wir müssen alles unternehmen, um Ausreisen in die Krisengebiete zu verhindern.“

Begehrter Gast bei Workshops und Präventionstagungen

Noch vor wenigen Jahren hat sich kaum einer für die Arbeit von Präventions- und Deradikalisierungsexperten wie Thomas Mücke interessiert. Mittlerweile tritt er regelmäßig bei Diskussionen auf und referiert bei Fachgesprächen.

Die Rekrutierer gehen nach einem bestimmten Muster vor, hat er erkannt. Die Salafistenfänger geben sich freundlich, zeigen Verständnis für die Probleme und bieten Gemeinschaft. Dann beginnen erste religiöse Gespräche: Demokratie und Islam würden nicht zusammenpassen, aufrechte Muslime dürften nicht in einem säkularen Staat leben, sagen sie. Dann beginne eine Art Gehirnwäsche. Fragen würden mit dem Hinweis abgeblockt, nicht so viel zu zweifeln, sondern einfach nur zu folgen. Nicht nur Taten könnten Sünde sein, sondern auch Gedanken. Methoden wie diese führten dazu, dass sich junge Menschen ihrer gewohnten Umgebung entfremdeten, sagt Mücke. Er beobachtet ein straff durchorganisiertes Anwerbesystem. Es gebe feste Strukturen in der Szene und ausreichend Geld. Rückkehrer, die sich öffentlich gegen Salafismus und Dschihadismus aussprächen, würden bedroht.

Das Vorgehen Mückes und seines Teams dagegen ist immer gleich. Meist melden sich Familienmitglieder, die sorgenvoll Veränderungen im Verhalten ihrer Angehörigen feststellen. Dann überlegt Mücke mit seinen Mitarbeitern, wer die besten Aussichten hat, Zugang zu dem Jugendlichen zu finden. „Wir klopfen nicht an die Tür und sagen Hallo“, sagt Mücke. Es gehe darum, auf Augenhöhe in Kontakt zu treten. Deshalb führe er nie das erste Gespräch.

Dazu hat Mücke Islamwissenschaftler und Muttersprachler in seinem Team. Zuerst versuchen sie, aus den Informationen, die sie haben, das Gefährdungspotenzial zu ermitteln, dann suchen sie den Kontakt. Mücke und sein Team stellen keine Fragen, sie hören vor allem zu. Erst wenn der Betreffende anfängt zu reden und Fragen zu stellen, fängt die Arbeit an. „Die Gefährdeten sind uns gegenüber sehr misstrauisch, damit müssen wir umgehen können und trotzdem das Interesse an der Person aufrechterhalten“, so Mücke.

„Es geht hier nicht um Religion. Es geht um Verbrecher“

Wenn das Misstrauen durchbrochen sei, bestehen gute Möglichkeiten, die Szene zu erreichen, so Mücke. Die ersten Gespräche drehen sich um den Islam. Dann kommen sie auf die Gemeinsamkeiten der Weltreligionen. Auch der Hinweis, dass Mohammeds dritte Frau Jüdin gewesen ist, helfe manchmal bei den radikalisierten Salafisten Zweifel zu säen und die verengte Weltsicht aufzubrechen. Und schließlich wollen Mücke und sein Team über das Vorgehen der Szene aufklären. Schulen und Jugendeinrichtungen könnten viel früher wichtige Informationen weitergeben, wenn es erste Anzeichen einer Radikalisierung gebe. Aber sie fürchteten sich viel zu oft vor einer Stigmatisierung und blieben zurückhaltend. Mücke ruft zu einem offenen Umgang mit dem Thema auf. „Es geht hier nicht um Religion. Es geht um Verbrecher.“