Berlin

Ganz Berlin ist ein Bio-Bauernhof

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Patrick Goldstein

Eine interaktive Karte zeigt, wo man kostenlos Früchte, Beeren und Kräuter ernten kann

Wespen umschwirren die Bundesforschungsministerin. Ameisen krabbeln ihr in die Sandalen. Doch um die landwirtschaftlichen Möglichkeiten einer Großstadt wie Berlin aufzuzeigen, scheut Johanna Wanka (CDU) am Montagnachmittag keine Mühen. Sie nimmt an einer „Stadternte“ teil, einer Veranstaltung, die zeigt, dass Berlin voll ist von Obstwiesen, auf denen die Früchte nur darauf warten, kostenlos gepflückt zu werden.

Die Aktion „Stadternte“ neben dem Britzer Garten ist Teil des „Wissenschaftsjahres 2015 – Zukunftsstadt“. Wankas Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) richtet seit 2000 derartige Wissenschaftsjahre aus. Die Behörde sucht sich dafür Partner, etwa Bürgerinitiativen oder Institute, die im Alltag mit dem Thema des Wissenschaftsjahrs zu tun haben. 2015 ist es etwa die Öko-Initiative „Mundraub“ aus Berlin. So können Bürger an Aktionen teilnehmen oder Veranstaltungen besuchen, auf denen sie erfahren, wie sich eine möglicherweise zunächst trocken wirkende wissenschaftliche Entwicklung direkt auf ihr eigenes Leben auswirkt.

Trugen sie zu Beginn noch wenig ansprechende Titel wie „Jahr der Physik“, „Jahr der Chemie“ und „Jahr der Technik“, ist bei „Zukunftsstadt“ klar, worum es geht. Das Ministerium will zeigen, wie das Zusammenleben der Bürger in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aussehen kann. Dabei geht es etwa um Ernährung und Verkehr. „Jeder Bürger soll durch diese Aktion angeregt werden“, so Wanka, „darüber nachzudenken: Wie will ich in 15 bis 20 Jahren in der Stadt leben – und dann seinen Stadtrat und Lokalpolitiker mit seinen Wünschen nerven.“

Zum Beispiel in Umweltfragen: Rundum grün und ganz ohne Energieaufwand funktioniert die Nutzung jener Lebensmittel, die die Natur ohne umweltschädliches menschliches Dazutun liefert. Auf einer Wiese an der Britzer Straße in Mariendorf stellt die Bürgerinitiative „Mundraub“ der Forschungsministerin vor, was eine ganz normale, öffentlich zugängliche Wiese in Bezirksbesitz kulinarisch zu bieten hat. Da wachsen Kirschpflaumen, Mirabellen, Äpfel, und ein Stück weiter hinein ins wild überwucherte Grünstück hat eine „Mundraub“-Mitstreiterin einen Birnenbaum entdeckt.

Gründer der Initiative ist Kai Gildhorn. Auf einer Paddeltour in Sachsen-Anhalt wunderte er sich über all die prallen Obstbäume am Ufer. Zurück in Berlin machte er sich daran, auf einer Karte im Internet Orte zu markieren, an denen Früchte und Kräuter frei verfügbar sind. Jeder konnte eigene Funde ergänzen und über die Karte anderen bekannt geben. Das war 2009. Inzwischen sind dort (mundraub.org/map) für Berlin 1586 Plätze verzeichnet. Eine Hälfte davon nennt Fruchtarten, die andere weist auf Sträucher hin, etwa auf solche mit Brombeeren, und Kräuter wie das Wunderlauch, auch bekannt als „kleiner Bruder des Bärlauchs“ und als Zutat ebenso aromatisch.

Berliner, die nun selbst zur Ernte schreiten wollen, sollten eine Regel der Mundräuber befolgen: Wer eine neue Obstwiese entdeckt, soll sich beim örtlichen Grünflächenamt informieren, ob das Areal wirklich öffentlich ist.

Inzwischen nutzen 30.000 Menschen die Seite aus Berlin. Es gibt Einträge für Kanada, Australien und die Mongolei. Auf der Bundesgartenschau in Brandenburg wird Saft von Äpfeln angeboten, die von Bäumen auf brandenburgischen Freiflächen geerntet wurden – organisiert von „Mundraub“. Nach Berlin wird „Mundraub“ auch in anderen Regionen zu „Stadternten“ aufrufen.

Einen begleitenden Auftrag für das Wissenschaftsjahr 2015 hat das Bundesministerium an das Wuppertaler Institut für Klima Umwelt Energie vergeben. Das Team von Projektleierin Alexandra Büttgen beobachtet und forscht am Beispiel der „Mundraub“-Initiative, welche wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen die Nutzung von freien Nachbarschaftsobstwiesen haben. Büttgen: „So eine Stadternte bringt Menschen zusammen, Kinder lernen über die Natur und die Umweltbelastung ist ungleich geringer: Statt den Apfel mit dem Schiff etwa aus Neuseeland zu holen, mit dem Lkw durch Europa und in die Geschäfte zu transportieren, kommt er vom Baum am Ende der Straße.“

Die Früchte Berlins sind sogar gesünder, sagt Ina Säumel vom Institut für Ökologie der Technischen Universität Berlin. Sie hat festgestellt, dass Proben von Nüssen, Stein- und Kernobst aus dem Berliner Stadtgebiet bei den kritischen Schadstoffen Blei und Cadmium unter den Grenzwerten der EU lagen. Im Vergleich seien die Produkte sogar mancher Supermarktware weit überlegen gewesen, so Säumel.