Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage stimmt schon mal: 20 Meter lang ist die Schlange von Menschen, die gern im fünften Stock eines renommierten Kudamm-Gebäudes dabei sein wollen, wenn drei junge Unternehmer dem Publikum von ihren übelsten Misserfolgen erzählen. „FuckUp Nights“ heißt die abendliche Veranstaltungsreihe, die in 99 Städten der Welt erfahrene und angehende Geschäftsleute zusammenbringt.
In der Start-up-Metropole Berlin ist der Saal im Haus Cumberland zum Bersten gefüllt. 200 Menschen sind gekommen. Die folgenden drei Stunden werden viele von ihnen stehend verbringen müssen. Das Durchschnittsalter der Gäste liegt zwischen 25 und 30 Jahren. Die 45 Minuten vor Veranstaltungsbeginn vertreiben sie sich nicht mit Bussi-Begrüßungen und Smalltalk. Stattdessen führt man sich auf dem Smartphone die Showreel seiner letzten Werbeclips vor, erzählt von guten Orten für Studentenpraktika in Ecuador und davon, in welchem Mitte-Café einem beim Arbeiten nicht pausenlos das Wlan abbricht.
Ivonne und Henry Naumann sind gekommen, um aus den Fehlern der Referenten zu lernen. Er ist Physiotherapeut, sie lernt im Fernstudium, wie man in der Gesundheitswirtschaft Geld verdient. Traumziele sind eine Reihe eigener Praxen, eine Niederlassung an der Ostsee, Sportlerbetreuung und ein Fitnessstudio. „Als angestellter Physiotherapeut verdiene ich so wenig, dass ich genauso gut auf dem Bau arbeiten könnte“, sagt Henry Naumann. „Wir wollen reich werden“, sagt seine Frau.
Ein Gong erklingt, ein Veranstalter verliert ein paar einführende Worte über „Projekte, die grandios gegen die Wand gefahren wurden“ und den Mut, öffentlich davon zu erzählen.
Plötzlich war alles fort: Mitarbeiter, Geld, Autos
Dann macht Thomas Wenzel die Bildershow zum Vortrag startklar und beginnt die Geschichte seiner Karriere. „Egal, mit wie viel Liebe man an ein Projekt herangeht: Scheitern ist trotzdem möglich“, schickt er voraus. Wenzel hätte mit „Es war einmal…“ anfangen können, denn er erzählt von einer märchenhaften Zeit, den Nullerjahren, als man mit dem Verkauf kleiner Spiele für winzige Handybildschirme Millionär werden konnte.
Wenzel und Partner versuchten das damals auch. Seine Games hießen „Sushi Fighter“ und „Ba-Bum“. Einen der nervigen Werbeclips für den Pop-Sender Viva lässt Wenzel noch einmal abfahren: Zu bunt-hysterischen Bildern fordert ein aufgeregter Sprecher, das Spiel jetzt umgehend unter Code 72400 und für 2,99 Euro zu ordern. Wenzel schaut verlegen. „Die Umsätze waren miserabel“, sagt er. Der ganze Saal lacht.
Der Vortrag verliert sich nun ein wenig in technischen Details. Ein paar Gäste schauen sich vielsagend an, auf der anderen Seite des Raums steigt am Tresen vorübergehend die Getränkenachfrage. Als er Til Schweiger ins Spiel bringt, sind die Zuhörer wieder ganz bei ihm. Vom Kino-Star hatte man sich in einer Privatsender-Show zur Top-Sendezeit eine Art Schleichwerbung für ein neues Handyspiel erhofft. Aber nicht einmal das klappte. Wenzel zählt auf: „Expansion in den österreichischen Markt, Vermarktung mit T-Online, neue Kooperationspartner – wir hatten alles versucht. Aber trotzdem kam der totale Zusammenbruch.“
Das Unternehmen lag am Boden. „Plötzlich war alles fort: Mitarbeiter, Geld, Autos.“ Wenzel schaut ernst. Jetzt lacht keiner. „Wir haben“, so sein Resümee, „von unserem Produkt mehr erwartet, als letztlich dahinter war.“ Ein Zuhörer fragt: „Bist Du noch Unternehmer?“ Wenzel, dessen Firma inzwischen in drei Städten Dependancen hat, lächelt verschmitzt und sagt: „Es geht wieder.“
Solche Geschichten erzählt man sich in diesem Rahmen in Berlin nun zum vierten Mal. 2012 gab es erste „FuckUp Nights“ in Mexiko. Daraus wurde eine Bewegung, die die Jungunternehmer in den Metropolen der Welt aufgriffen. Die Berliner Gastgeber arbeiten als Architekt, Sporttrainer, Geschäftsmann und Dozent. „Wir machen das aus Interesse und Spaß“, sagt Fabian Metzeler, der mit LED-Beleuchtung fürs Eigenheim sein Geld verdient. Fünf Euro kostet hier der Eintritt, die Getränke und Chips sponsert ein Caterer. Es scheint, als ob in dieser Veranstaltungsreihe Wirtschaft und guter Wille tatsächlich miteinander harmonieren.
Vom Misserfolg im Privatleben
Ruth Barry ist die nächste Referentin. Die Schottin backt hauptberuflich exotische Süßwaren, in denen sich unerwartete Früchte und Gewürze verbergen. Mit der U-Bahn fährt sie ihre Ware aus. Sieben Tage die Woche. Die Leinwand hinter ihr zeigt Kinderbilder. „Ich wollte immer berühmt werden“, liest Ruth Berry aus ihrem vorbereiteten Text. „Aber meine Eltern wollten mich lieber in einer Folkloretanzgruppe sehen.“ Sie sei ein schwieriges Kind gewesen. Ruth Barry spricht von einem frühen Boyfriend, vom ersten Sex. Ein anderer Freund habe sie mit 15 Jahren vergewaltigt. Später habe sie unter einer Essstörung gelitten. Im Publikum tauscht man wieder Blicke, aber niemand steht auf.
Die Schottin zeigt Bilder aus ihrer Modelkarriere. Das Thema Unternehmertum streift sie, als sie erste Aufträge für Catering in Londons Kunstwelt erwähnt. Dann spricht sie von einer Reise nach Berlin, in der sie sich 2013 plötzlich in eine Frau verliebt. Dann geht alles kaputt. Ihr Partner versteht die Welt nicht mehr, Barry bricht mit ihrer ebenso verständnislosen Mutter. Mit der Freundin ist auch erst mal Schluss. „Fuck up“ ist ein rauer Begriff für „gehörig vermasseln“.
Barry hat den lockeren Wirtschaftstreff am Kudamm als Gelegenheit verstanden, reinen Tisch zu machen. Doch ihre Vorlesung hat ein Happy End. Barry und Freundin raufen sich zusammen, sie lässt ihr Catering in Berlin wieder aufleben, und die Backwaren – so ihre kleine Werbebotschaft am Schluss –kann man sonntags in einem Geschäft im Bahnhof Alexanderplatz kaufen.
Tipp: Nicht alles selbst machen
Es wird herzlich applaudiert. Mit so vielen Emotionen hat bei diesem Business-Treff wohl kaum jemand gerechnet. Eher mit einem wie Darius Moeini. Schon das zweite Foto, das er im letzten Vortrag des Abends auf die Leinwand wirft, zeigt Leonardo DiCaprio als Wall-Street-Spekulant – mit gereckten Armen, jederzeit im Begriff, vor Kraft durch die Decke zu gehen: Ein erfolgsgetriebener Großunternehmer, der umsetzt, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat.
Moeinis Appell an diesem Abend aber ist, hoch fliegende Ideen schnell zu erden. „Denken Sie bloß nicht, Sie seien Mark Zuckerberg“, ruft er den gebannt lauschenden Jungunternehmern zu. „Denken Sie wie er hier.“ Moeini bringt das nächste Bild auf die Leinwand. „Mustafas Gemüse Kebab“ steht über einem grinsenden Imbissverkäufer. Das bringt Lacher, verbindet Lustigkeit und Lektion, nämlich die, dass man mit der Idee, im bio-verrückten Berlin alte Klassiker auf vegetarisch zu trimmen, ebenfalls wunderbare Erfolge erzielen kann.
Bevor er ein florierendes Unternehmen gründete, das Start-ups berät, scheiterte Moeini kläglich mit Stadtportalen, die über Restaurants und Freizeitangebote berichteten. „Ich habe mich um alles gekümmert: Technik, Strategie, Geldbeschaffung. Und ich habe alles falsch gemacht.“ In das allgemeine Gelächter ruft er: „Warum habe ich mir nicht jemanden dazugeholt, der das gekonnt hätte?“
Gerade, wo ihn Niederlagen so schmerzen. „Wissen Sie, ich bin sehr eitel. Was denken Sie, wie peinlich mir diese Flops immer waren.“ Am Ende hätten ihn seine Geldgeber – Moeini zeigt ein Bild von Enten-Milliardär Dagobert Duck, und nun gibt es im Saal bald wirklich kein Halten mehr – aus dem eigenen Unternehmen geworfen. „Umgeben Sie sich immer“, lautet schließlich einer seiner Ratschläge, „mit Menschen, die Dinge besser können als Sie.“
Moeini tritt ab. Ein Gastgeber fragt in die Runde, ob vielleicht noch einer der Zuschauer von einem Misserfolg erzählen möchte. Doch die Besucher greifen bereits nach ihren Jacken, warten gar nicht erst auf die Fahrstühle und verschwinden im Treppenhaus. Es ist spät geworden, morgen ist ein Arbeitstag, und der Kopf ist jetzt voller neuer Ideen.