Barbara und Wolfgang Tharra sind besorgt. Sie leben seit 46 Jahren in der Großgörschenstraße 27. Die Vorstellung, von hier wegziehen zu müssen, macht Barbara Tharra Angst. „Wir haben auch schlechte Zeiten in Berlin miterlebt“, sagt die 71-Jährige. „Und jetzt, wo alles so schön ist, sollen wir daran nicht mehr teilhaben?“ Das Haus, in dem sie wohnen, steht für 3,1 Millionen Euro zum Verkauf. Eigentümer ist der Bund. Er verkauft derzeit 1700 Wohnungen in Berlin an den meistbietenden Investor. So sieht es die Liegenschaftspolitik des Bundes vor.
In der Großgörschenstraße in Schöneberg wächst der Widerstand gegen den Verkauf. Die Mieter haben sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen. Inzwischen hat auch die Politik das Dilemma erkannt. Warum sollen die Wohnungen aus Bundeseigentum an private Investoren verkauft werden, wenn in Berlin gerade versucht wird, den öffentlichen Wohnungsbestand zu vergrößern, um die Mieten vor allem in der Innenstadt nicht weiter ansteigen zu lassen?
Das Ehepaar Tharra wohnt in der dritten Etage. Hier wuchsen auch die beiden Kinder des Ehepaars auf, gingen im Viertel zur Schule. „Hier herrscht so eine nachbarschaftliche Atmosphäre, man kennt sich, unsere Ärzte sind hier“, so Barbara Tharra. „Das würde dann alles auseinander gerissen, die Mieten kann nach einer energetischen Sanierung ja keiner mehr bezahlen.“ Verdreifachen könnte sich die aktuelle Kaltmiete von 428 Euro, hat sich das Paar ausgerechnet. 1968, als sie einzogen, bezahlten sie 130 Mark. Damals arbeitete Wolfgang Tharra, geboren vor 72 Jahren in Neukölln, bei der Bundesdruckerei. So haben die beiden diese Drei-Zimmer-Wohnung bekommen.
Heimliche Besichtigungen, kaum Informationen
Vom geplanten Verkauf erfuhr ein Mieter des Hauses durch die Anzeige im Internet, mit den Bewohnern selbst wurde darüber nicht gesprochen. Bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) bekamen sie auf Nachfrage keine Auskunft. Zwei Tage, bevor das Bietverfahren losging, wurden die Mieter darüber in Kenntnis gesetzt. Die Besichtigungen fanden öffentlich statt.
„Doch dann postierten wir uns mit Schildchen und sprachen die Interessenten an“, erzählt Barbara Tharra. Seitdem wird heimlich besichtigt. Doch irgendein Mieter bekommt das immer mit, telefoniert sich mit den anderen zusammen, und so schafft es Wolfgang Tharra doch, die Kaufinteressenten anzusprechen. „Meist sind sie auch gesprächsbereit“, sagt seine Nachbarin. „Aber es sind alles Leute, die hier sofort anfangen wollen zu sanieren.“ Sie haben Angst, verdrängt zu werden, sagt sie. Man sei auch im Gespräch mit einer Genossenschaft, doch die könne den Preis nicht aufbringen.
Kürzlich hat sie einen Brief an Angela Merkel geschrieben, doch als Reaktion kamen nur Hinweise auf juristische Wege, die den Mietern offen stünden. „Bevor man einen kostenlosen Rechtsbeistand organisiert hat, ist das ganze Kaufverfahren doch längst abgeschlossen“, prophezeit die Mieterin. „Es ist schlimm. Als Mieter hat man einfach keine Möglichkeit, sich zu wehren.“
Neun Gebäude und Grundstücke in Berlin, acht in Brandenburg
Die Interessengemeinschaft hat eine Petition an den Bundestag gerichtet, um den Verkauf zu stoppen. Stattdessen sollen kommunale Wohnungsbaugesellschaften oder Genossenschaften ein Vorverkaufsrecht erhalten, um die Mieten vor allem in den Gebieten der Innenstadt nicht weiter in die Höhe schießen zu lassen.
Neun Gebäude oder Baugrundstücke bietet der Bund derzeit in Berlin zum Kauf an, acht weitere sollen in Brandenburg verkauft werden, darunter Liegenschaften in unmittelbarer Stadtrandlage in Großbeeren, Blankenfelde und Stahnsdorf.
„Die Bima verlangt Höchstpreise und befördert damit Mieterhöhungen und Verdrängungen im ohnehin angespannten Berliner Wohnungsmarkt“, kritisiert die Stadtentwicklungsexpertin der Linken Katrin Lompscher. „Dabei könnte mit den in Bundesbesitz befindlichen 1700 Wohnungen und Grundstücken ein Beitrag für bezahlbaren Wohnraum und nachhaltige Stadtentwicklung geleistet werden.“
Grüne fordern Verkaufsstopp
Die Grünen verlangen einen Verkaufsstopp für die derzeit in Schöneberg angebotenen Wohnungen. „Wir fordern den Senat auf, schnellstmöglich bei der Bundesregierung einen Verkaufsstopp zu erwirken und die Bundesregierung an die Koalitionsvereinbarung von 2013 zu erinnern, in der sie sich zu einer wohnungspolitischen Verantwortung bekannt hat“, sagen die Mieten-Expertin der Fraktion, Katrin Schmidberger, und der Sprecher für Stadtentwicklung, Andreas Otto.
Das Vorgehen des Bundes ist umso erstaunlicher, da die Berliner Landespolitik beschlossen hat, den öffentlichen Wohnungsbestand von rund 280.000 Wohnungen auf 340.000 zu erhöhen, um eine Verdrängung mittlerer und unterer Einkommen aus der Innenstadt zu verhindern. Daher will Berlin seine Liegenschaften nicht mehr zum Höchstpreis verkaufen, sondern auch soziale Aspekte berücksichtigen.
Die Liegenschaften im Angebot
Berlin: Insgesamt neun Immobilien verkauft der Bund derzeit in Berlin (siehe Grafik unten): Stallschreiberstraße 17-32 in Mitte (1), Karl-Marx-Allee 1/Otto-Braun-Straße 70-72 in Mitte (2), Großgörschenstraße 25-27 in Schöneberg (3), Waldowallee 115 und 117/Rheinsteinstraße 70 in Lichtenberg (4), Grumbkowstraße 54 in Pankow (5), Niederwallstraße 3-5 in Mitte (6), Teltower Damm 74-76 in Zehlendorf (7), Londoner Straße 30 und Themsestraße 1, 3, 4, 6, 8, 10 in Wedding (8) und Breite Straße 12 in Mitte (9).
Brandenburg: In Brandenburg stehen derzeit acht Liegenschaften des Bundes zum Verkauf (siehe Grafik unten), davon vier in der Nähe von Berlin: Tizianstraße 13 in Potsdam (10), Birkenhainer Ring/Mahlower Straße in Großbeeren (11), Jühnsdorfer Weg 1 in Blankenfelde/Mahlow (12) und Mühlenbecker Chaussee in Oranienburg (13).
Für Kaufinteressenten hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben eine Broschüre mit den Liegenschaften des Bundes angefertigt, die im Internet abrufbar ist: www.bundesimmobilien.de.