Die Berliner Charité steht am Scheideweg. In diesem Jahr wird sich erweisen, ob Berlins Universitätsklinik ein Leuchtturm für Krankenversorgung und medizinische Wissenschaft bleibt, oder ob die mehr als 300 Jahre alte Institution in eine Abwärtsspirale gerät.
So sieht es jedenfalls aus Sicht der Beschäftigten aus, sagt der Vorsitzende des Gesamtpersonalrats, Carsten Becker. Auf vielen Stationen seien die Bedingungen schon heute für Mitarbeiter und Patienten kaum noch zumutbar. „Das Ende ist für uns schon lange erreicht“, sagt Becker.
Die Personalvertreter beobachten bereits eine Absetzbewegung von Kollegen aus besonders belasteten Kliniken entweder in andere Stationen des Hauses oder weg von der Charité. Jobs finden sie fast alle, denn medizinisches Fachpersonal ist knapp und die Charité eben eine überaus reputierliche Adresse.
Viele Mitarbeiter des Klinikums sind unzufrieden
Auch Charité-Vorstand Karl Max Einhäupl wird nicht müde, die schleichende Erosion gerade hoch spezialisierter Universitätskliniken unter dem Kostendruck des Gesundheitssystems zu beklagen. Der Professor sagt für die kommenden Jahre ein Kliniksterben in Deutschland voraus, wenn am Finanzierungssystem nichts geändert werde.
Aber obwohl Vorstand und Belegschaft in der Finanzierungsfrage in einem Boot sitzen und Forderungen an die Bundespolitik für eine bessere Finanzierung der Krankenhäuser richten, steuern sie auf Konfrontationskurs, der für die Zukunft des Hauses mit seinen fast 13.000 Mitarbeitern und 140.000 stationär behandelten Patienten pro Jahr entscheidend sein könnte. Denn so exzellent die Charité in der Forschung und Spitzenmedizin auch ist, so groß sind die Klagen von Patienten und Mitarbeitern über Engpässe in Pflege und normaler Krankenbetreuung.
Die Gewerkschaften fordern einen neuen Tarifvertrag, in dem Mindestbesetzungen in den einzelnen Stationen vorgeschrieben werden sollen. „Ein bestimmter Schlüssel von Personal pro Patient muss überall gesichert sein“, beschreibt Personalrat Becker das Ziel. Heute sei es üblich, dass auf normalen Stationen eine Pflegekraft 30 Patienten betreut. Bis 22. Februar 2013 läuft das Ultimatum der Gewerkschaft an den Charité-Vorstand, die Verhandlungen über einen solchen Tarifvertrag aufzunehmen. „Sonst gibt es einen Arbeitskampf“, droht Becker.
Charité-Chef Einhäupl hat Verständnis für Belegschaft
Für Einhäupl ist der Missmut seiner Mitarbeiter in weiten Teilen sogar nachvollziehbar. Dem angesehenen Neurologen ist klar, dass er seinen Kollegen viel zugemutet hat in den vergangenen Jahren, in denen er den Tanker Charité aus den roten Zahlen geführt hat. Dennoch fehlt dem Vorstand aus Sicht Einhäupls der Spielraum, die Verhältnisse wirklich substanziell zu verbessern.
Aus Sicht der Arbeitnehmer könnte er nur die Bettenkapazität verringern, wenn er nicht mehr Geld für Personal auftreiben kann. Denn bis auf Bundesebene mit den Krankenkassen auskömmlichere Finanzierungsregeln für die Krankenhausversorgung beschlossen werden, kann es lange dauern.
Neben diesem Kampf muss sich Einhäupl zunächst auf die näher liegende Front konzentrieren. Und das ist wie schon in den vergangenen Jahren der miserable bauliche Zustand vieler Charité-Gebäude, für den das Land Berlin die Verantwortung trägt. Nach den 330 Millionen Euro, die 2010 für die Charité aus der Landeskasse bewilligt wurden und die zu mehr als der Hälfte in die Sanierung des Bettenhochhauses in Mitte fließen, braucht das Klinikum mit seinen vier Standorten und mehr als 3000 Betten nach ersten Berechnungen weitere 600 Millionen Euro bis 2024, um seine Anlagen zu modernisieren.
Einhäupl wirbt schon lange darum, der Senat möge der Charité jährlich Geld für Investitionen geben, um zu verhindern, dass sich die Probleme wie im Fall des völlig heruntergekommenen Bettenhochhauses zu einem riesigen Investitionsstau ballen. Andere Universitätskliniken in Deutschland würden von ihren jeweiligen Landesregierungen so behandelt, pflegt der Professor zu sagen.
Krankenhausküche wegen Dreck im Essen geschlossen
Die Vernachlässigung der Charité ging so weit, dass das Gesundheitsamt die Krankenhausküche an der Luisenstraße schließen musste, nachdem Dreck aus den vielen Ritzen ins Essen gefallen war. Hier streitet der Vorstand Seite an Seite mit den Arbeitnehmern. Es könne nicht sein, dass der Senat erwarte, die Charité solle das Geld für diese Investitionen selbst erwirtschaften, sagt Personalratschef Becker. Finanzsenator Ulrich Nussbaum (parteilos, für SPD), mit dem Einhäupl monatelang bis zur persönlichen Beleidigung um das Geld zur Hochhaussanierung gestritten hatte, habe sich im Aufsichtsrat in dieser Form geäußert, sagt der Personalvertreter. „Aber dieses Geld kann man nicht auch noch aus dem Personal rauspressen“, so Becker.
Rückenwind für seine Forderung nach auskömmlicher Finanzierung erhält Charité-Chef Einhäupl von der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) und der Landesvertretung des Ersatzkassenverbandes (vdek). Im kommenden Doppelhaushalt 2014/15 müssten die Forderungen berücksichtigt werden, forderten die beiden Gesellschaften am Mittwoch. Bislang gebe das Land jährlich effektiv nur 60 Millionen Euro, denn die restlichen 34 von insgesamt rund 94 Millionen Euro würden zur Tilgung von Altinvestitionen eingesetzt.
Einhäupls Vertragsverlängerung bleibt fraglich
Vom Entgegenkommen des Landes wird es abhängen, ob Einhäupl seinen bis August 2013 laufenden Vertrag verlängert. Wissenschaftssenatorin Sandra Scheeres (SPD), die Aufsichtsratschefin der Universitätsklinik, verspürt dem Vernehmen nach wenig Neigung, den auch und gerade unter den an Universitätsklinika sehr einflussreichen Professorenkollegen hoch angesehenen Klinik-Manager auszuwechseln. Das gilt trotz der Pannenserie der vergangenen Monate und des wenig glücklichen Umgangs mit den diversen Problemen, vom Keimbefall auf der Frühchenstation bis zum immer noch ungeklärten Missbrauchsfall auf der Kinderstation. Die Gespräche über die Verlängerung des bisher mit einer halben Million Euro pro Jahr dotierten Kontrakts haben aber offiziell noch nicht begonnen.
Einhäupl würde trotz seiner 66 Jahre ebenfalls gerne weiter machen. Aber nur, wenn ihn das Land nicht auf eine „Mission impossible“ schickt, sondern mit einer Zusage für Zuschüsse für die bauliche Sanierung die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Betrieb sichert. Attraktiv wäre eine weitere Amtszeit für den früheren Chef des Wissenschaftsrates vor allem wegen eines Projektes, die Berlins Rolle als Vorreiter der medizinischen Wissenschaft stärken soll: Die Zusammenarbeit der Universitätsklinik mit dem Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin. Das kann aber nur klappen, wenn dann auch noch ausreichend Pflegekräfte an der Charité tätig sind. In einem Modellprojekt des Bundes und des Landes Berlin sollen die außeruniversitäre Grundlagenforschung (MDC) und die klinische Forschung (Charité) künftig zusammenarbeiten.
Neues Berliner Institut für Gesundheitsforschung
Dazu wird das „Berliner Institut für Gesundheitsforschung“ (BIG) gegründet. Beide Einrichtungen kooperieren bereits miteinander, nun wird mit der Fusion die molekularische Forschung erstmals dauerhaft mit der klinischen Forschung in einer Institution zusammengeführt. Damit sollen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung schneller zur klinischen Anwendung am Patienten gebracht werden und innovative Diagnosen und Therapien entwickelt werden können.
Mit der Zusammenlegung der beiden international renommierten Einrichtungen erhält der Gesundheits- und Forschungsstandort Berlin auch erhebliche Geldmittel. Von 2013 bis 2018 sollen insgesamt 311,7 Millionen Euro für das neue BIG bereitgestellt werden. Mit 285 Millionen Euro den größten Anteil trägt daran der Bund, zehn Prozent der Mittel kommen vom Land. Außerdem wird das neue Institut in den nächsten zehn Jahren mit insgesamt 40 Millionen Euro von Johanna Quandt gefördert, der Unternehmerin und Mitbegründerin der Charité Stiftung.