Yuji Weisgard läuft mit Alexander, Christina, Hans Peter und Malthe die Oranienstraße in Richtung Moritzplatz entlang. Die Blicke der fünf dänischen Studenten saugen alles auf, was sie hier sehen, die vielen Baustellen, die Schilder „Wir bleiben alle“, die Aufrufe in den Kneipen: „Haut ab, Touristen“ oder „Immigranten willkommen“.
Sie sehen den Mix an Menschen, die auf dieser wohl typischsten aller Kreuzberger Straßen am Nachmittag entlanglaufen: Studenten, junge internationale Gründer von Internetunternehmen, zugewanderte Einheimische aus der Türkei und dem Mittleren Osten, auch ein paar Alkoholiker oder Junkies.
Sie kennen das mehr oder weniger aus ihrer Heimatstadt Kopenhagen. Es ist ein Bild, das so in vielen europäischen Großstädten zu sehen ist. Doch die fünf Stadtsoziologen halten Ausschau nach Zeichen des Protests gegen Gentrifizierung. Am Ende ihres Spaziergangs sieht Yuji Weisgard ein solches Zeichen. Es ist ein Poster am Zaun der „Prinzessinnengärten“, einem städtischen Gemeinschaftsprojekt, das an sich schon für eine Studie interessant wäre. Aber der Däne fotografiert zunächst nur das Poster am Tor: „Gentrify Garten!“.
Was Peer Steinbrück mit Gentrifizierung zu tun hat
Yuji Weisgard ist kein Tourist, der nach Berlin gekommen ist, um auszugehen und Bier zu trinken, das in Berliner Kneipen halb so viel wie in Kopenhagen kostet. Sondern der 23-Jährige ist mit seinen Kommilitonen für eine Exkursion in die Stadt gekommen, die in ihre 54-seitige wissenschaftliche Hausarbeit über Gentrifizierung einfließen wird – für die sie am vergangenen Freitag ihren Kurs über Stadtentwicklung mit „bestanden“ abschließen konnten. Berlin haben sie ausgesucht, weil niemand an der Stadt vorbeikomme, sagen sie, der über dieses Thema recherchiere.
Es gebe viel wissenschaftliche Literatur, auch wenn der Begriff seinen Ursprung in London hat, wo vor 50 Jahren eine Stadtsoziologin die Veränderungen im Bezirk Islington untersuchte. Inzwischen ist er durch ganz Europa gewandert, wurde in Paris diskutiert und hat es in Berlin schließlich zum politischen Schlagwort geschafft.
Er wird bei der Bundestagswahl in diesem Jahr eine große Rolle spielen. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück macht die Mieterhöhungen in vielen Großstädten Deutschlands zu seinem Wahlkampfthema– und trifft damit einen Nerv im Land.
Der Stadtgeograf Bastian Lange von der Humboldt-Universität sieht auch, dass der Diskurs über Gentrifizierung in Deutschland stark politisiert sei. „Die Kritik an der Gentrifizierung und ihren Effekten kommt oft aus der Richtung der Generation der 68er, die zum Teil mit dafür verantwortlich sind“, sagt er. „Nach außen hin feiern sie Berlin als kreative Stadt, aber nach innen wollen sie keine Veränderung.“
Gerade in Berlin sei zudem vielen der Blick verschleiert von Mythen und Legenden über die Stadt. „So wird oft ungeprüft davon ausgegangen, dass Berlin bis heute eine Stadt zu sein hat, in der es noch immer möglich sein muss, innenstadtnah zu günstigen Preisen zu wohnen“, sagt er. Gleichzeitig sei Berlin aber stolz darauf, immer im Werden, nie fertig zu sein. Er nennt es: „Stigma des Wandels“.
Verbunden mit der starken Identifizierung von Bewohnern mit ihrem Stadtteil, wird aber nicht jede Veränderung, nicht jede Verbesserung als positiv wahrgenommen. Viele wollen ihren Kiez so behalten, wie er ist, der Wandel soll sich bitte schön im anderen Kiez vollziehen.
Die Studenten aus Kopenhagen haben für ihre Exkursion den Berliner Stadtgeografen interviewt – er war es auch, der sie nach Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg schickte. Sie haben am Kottbusser Tor gestanden, den Hermannplatz sowie den Helmholtzplatz umrundet und auf der Weserstraße am Abend flaniert. „Es war interessant zu sehen“, sagt Yuji Weisgard, „dass dort die Gentrifizierung noch richtig sichtbar im Prozess ist.“ Sie breite sich nur langsam von der Weserstraße auf die Nebenstraßen aus. „Die Straße ist wie eine Arterie der Gentrifizierung.“ Schon zwei Straßen weiter sei von der Internationalen-Künstler-Atmosphäre der Weserstraße wenig zu spüren. In diesem Bezirk haben sie dann doch ein Berliner Bier getrunken – aber selbst morgens um drei Uhr noch begeistert mit Einheimischen über Gentrifizierung geredet.
Die Dänen haben Gentrifizierung, wissen aber nicht, was das ist
Yuji Weisgard und Christina Petersen waren bei diesen Gesprächen überrascht, dass jeder in Berlin verstand, wovon sie überhaupt sprachen. „Gentrifizierung“, sagt Weisgard, „ist in Dänemark ein wissenschaftlicher Begriff.“ Wenn sie zuhause ihren Freunden oder Eltern erklären sollen, welches Phänomen sie in ihrem „Humanistisk-Teknologisk Basisstudium“ gerade untersuchen, dann dauert das meist lang. „Obwohl in Kopenhagen“, sagt er weiter, „seit mehr als zehn Jahren das Gleiche passiert wie hier.“ Es gebe keine Gegenbewegung, keinen Protest, kein Bewusstsein, dass die Veränderung einer Wohngegend auch negative Aspekte haben könne.
Das Thema ihrer Hausarbeit ist das Viertel Nørrebro im Zentrum Kopenhagens. Ein schönes Wohngebiet direkt am Kanal, mit vielen sanierten vierstöckigen Häusern, das Grab des Philosophen Søren Kierkegaard liegt in diesem Bezirk. Noch vor fünf Jahren hatte es einen sehr schlechten Ruf, man konnte dort abends nicht allein auf die Straße gehen, ohne Angst vor Überfällen haben zu müssen. Die meisten Wohnungen waren in Genossenschaftsbesitz, wie es sonst in Dänemark üblich ist. Mit der Zeit aber entdeckten Künstler und Studenten diese Gegend und es begann das, was in Neukölln gerade auch passiert. Jetzt gilt es plötzlich als „hip“, in Nørrebro zu wohnen. Nur am Freitag, wenn in der großen Moschee gebetet wird und am Nachmittag die ersten Yuppies mit ihrem Latte Macchiato oder einem Bier in der Hand vorbeilaufen, gibt es sie noch: die Blicke, die zeigen, dass hier auch Welten aufeinanderprallen.
Der Berliner Wirtschafts- und Stadtgeograf Bastian Lange kennt das Projekt der Dänen und weiß um die Unterschiede in Europa. Er habe die Besucher aber auch darauf hingewiesen, dass der Begriff in Deutschland tatsächlich ein vielschichtig diskutierter sei und gleichzeitig ein umkämpfter. „Die linken Parteien versuchen in jüngster Zeit“, sagt er, „die Effekte der Gentrifizierung politisch für sich zu reklamieren und benutzen ihn, um auf wachsende soziale Ungerechtigkeiten hinzuweisen.“ Doch er bestätigt auch die Wahrnehmung der dänischen Studenten, dass in Berlin das Bewusstsein über die Veränderung in ihrer Stadt viel stärker sei. Von hier aus habe sich eine Bewegung gebildet, die inzwischen nicht aus Hunderten, sondern eher 100.000 Demonstranten landesweit bestehe.
Der Beweis dafür ist auch das Schild „Gentrify Garten“, das in der wissenschaftlichen Arbeit der Dänen auf der Seite 20 nun abgebildet ist. Es zeigt: Berliner benutzen das Wort Gentrifizierung in ihrer Umgangssprache, auf der Straße. Die Soziologen schreiben: „Gentrifizierung ist ein Thema, das sowohl Einwohner als auch Politiker beschäftigt, und der Unmut der Bürger über diesen Prozess hat eine mentale und visuelle Präsenz in der Stadt.“
Wer soll was dagegen haben, wenn sich was verbessert?
In Dänemark, sagt Yuji Weisgard, sei das eben komplett anders. „Bei uns heißt dieses Phänomen der Stadtveränderung nicht Gentrifizierung, sondern alle sagen Kvarterløft.“ Es sei viel positiver besetzt, es bedeute grob übersetzt „Verschönerung“. Die Stadtverwaltung benutzt es, auf Plakaten und in Dokumenten, es steht in Zeitungen, jeder kennt „Kvarterløft“. Dadurch entstehe ein ganz anderes Denken, selbst von denen, die ausziehen müssen, die verdrängt werden. „Es gibt keinen Protest oder eine Bewegung gegen Kvarterløft“, sagt Yuji. Wer wolle schon etwas dagegen haben, wenn sich Dinge in der Stadt verbessern? Aber gleichzeitig können es sich junge Kopenhagener nicht mehr leisten, weiter in dem Stadtteil zu wohnen, in dem sie mit ihren Eltern aufgewachsen sind.
Auch das ist eine Gemeinsamkeit mit Berlin: Es ziehen vor allem Neu-Kopenhagener aus dem südlichen Jütland im Westen Dänemarks in diese Gegenden – so wie Schwaben und Bayern nach Prenzlauer Berg und Kreuzberg gekommen sind. Jütländer sprechen anders als Kopenhagener. Sie sagen „Wir gehen in die Innenstadt“, während die Einheimischen nur von „der Stadt“ sprechen. Wenn Jütländer wissen wollen, wie spät es ist, fragen sie nach der „Uhr“ (klok) und nicht wie Kopenhagener nach der „Zeit“ (tid). Es sind nur Kleinigkeiten, aber in Berlin ärgern sich auch hochrangige Politiker medienwirksam darüber, dass im Prenzlauer Berg von „Wecken“ statt „Schrippen“ gesprochen wird.
Bastian Lange, der Städte und Verbände in Europa zu Fragen der urbanen Kreativwirtschaft berät, sagt, dass sich diese Prozesse trotz ihrer Ähnlichkeiten nur schwer vergleichen lassen. Die Ausgangssituation der Städte sei sehr unterschiedlich. In Dänemark sei die Gesellschaft und die Wohnungspolitik stark auf Ausgleich von sozialen Unterschieden hin ausgerichtet. Auch ist es dort meist die Stadtverwaltung selber, die diese Veränderungen anstrebt und nicht mehrere Investoren. „In Berlin haben die dramatischen Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt auch mit den Veräußerungen landeseigener Wohnungsgenossenschaften zu tun.“ Wo sich aber finanzielles Kapital mit einem Drang zur kulturellen Aufwertung von Gebieten paare, da sei Verdrängung kaum aufzuhalten – trotz Milieuschutzsatzung oder anderer Regularien.
Im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro verlief dieser Prozess andersherum, wie Yuji Weisgard erklärt. Die Stadtverwaltung ließ Gebäude sanieren, und so verteuerten sich die Genossenschaftswohnungen zum Teil erheblich. Die weniger reichen Einwohner konnten sich daraufhin das Startkapital für ein Zuhause in Nørrebro nicht mehr leisten, fanden aber leicht andere Wohnungen weiter außerhalb. So entstand ein Zuzug in diesen Stadtteil – auch von jungen Kreativen, von Familien. „Die Straßen wurden sauberer, auch sicherer“, sagt Weisgard, „das Stadtbild wandelte sich und in der Zeit öffneten auch die ersten teuren Cafés mit Latte Macchiato.“ Diese Veränderungen waren politisch gewollt und wenn es eine Gegenbewegung gab, war sie klein.
Viele sind unbemerkt Teil der Veränderungsmaschinerie
In Berlin, so Bastian Lange, sei die Aufwertung durch den Zuzug von jungen, gut ausgebildeten Kreativen begonnen worden. Mittlerweile werden sie aber auch Opfer ihres eigenen Effekts und immer öfter wie andere Wohnhaushalte aus dem inneren Stadtgebiet verdrängt: „Viele haben nicht erkannt, dass sie schon längst Teil der Veränderungsmaschinerie sind.“ Doch als Wissenschaftler wundert er sich zum Teil über die heftigen Proteste. „Wer einerseits Wandel will, und dies mit seinem Lebensstil verbindet, der darf sich nicht wundern, dass sich der auch raumstrukturell auswirkt.“ Weil aber diese Proteste für viele Wissenschaftler in Europa interessant sind, kommen immer mehr von ihnen nach Berlin. Lange spricht von einem regelrechten Konferenztourismus von Stadtforschern. Das Interesse an Berlin habe zudem mit der Kreativindustrie, dem liberalen Ruf der Stadt und der Geschichte der Teilung zu tun.
Die dänische Anthropologin Anne Kristine Hermann zum Beispiel schrieb eine vielbeachtete Arbeit, mit einem Titel, der für einige in Dänemark zum Schlagwort wurde: „Når eliten flytter ind, flytter andre ud“. Auf Deutsch: „Wenn die Eliten kommen, müssen die anderen gehen.“ Auch sie hat als ein Beispiel Neukölln herangezogen, wo noch vor vier Jahren 80 Prozent der Mieten weniger als sechs Euro pro Quadratmeter kosteten. Jetzt kosten viele davon mehr als acht Euro, auch sie schreibt von Protestbewegungen.
In Deutschland wurde zum Beispiel die vergangene „Revolutionäre Demonstration zum 1. Mai.“ unter anderem dem Thema Gentrifizierung unterstellt. Im Aufruf war ausdrücklich von der „Verdrängung in den Stadtteilen“ die Rede, gegen die man protestiere. Ein Flyer aus dem Jahr 2009 vom dänischen Netzwerk „Openhagen“ hingegen versucht zunächst nur, die Öffentlichkeit über das Wort Gentrifizierung aufzuklären. Aber es blieb bei einem Diskussionswochenende, es kam zu keinen Demonstrationen.
Yuji Weisgard und seine Kommilitonen haben ihre Erfahrungen vom Helmholtz-, Moritz- und vom Hermannplatz in ihre wissenschaftliche Arbeit einfließen lassen. Sie haben gemerkt, dass „Kvarterløft“, also die Verschönerung, als Begriff zu positiv besetzt ist, um dem Phänomen gerecht zu werden, „Verdrängung“ aber wiederum zu sehr den negativen Aspekt betont. Ihr Fazit lautet: „Auch wenn der Gentrifizierungsprozess in Berlin eine andere Konstruktion hat als in Kopenhagen, so sind die Konsequenzen die gleichen.“
Die fünf Dänen aber sind auch ein Teil dieser Konsequenzen, nicht nur auf ihre Stadtteile bezogen. Sie wollen nämlich bald wieder nach Berlin kommen, ganz ohne Exkursionsthema. Einen Vorteil haben sie dabei, und der hat auch etwas mit der Berliner Stadtentwicklung zu tun, die vielen Politikern hier Sorgen macht. „Jeder in Kopenhagen“, sagt Yuji Weisgard, „hat mindestens einen Freund, dessen Eltern eine Wohnung in Berlin gekauft haben.“ Diese stehen den größten Teil des Jahres leer, aber sie haben sie vor zehn Jahren gekauft, als sie noch günstig waren. „Wir zahlen dann nur wenig und können dann mehrere Tage bequem in Berlin sein.“ Nur fehlt es dafür noch an einem griffigen Wort, das man auf Flyer drucken kann.