Billig-Modekette

Warum es bei der Primark-Premiere hysterische Szenen gab

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Julia Friese

Foto: Sven Lambert

In Berlin-Steglitz hat ein neuer Textil-Discounter eröffnet. Tausende kamen und waren im Kaufrausch. Warum eigentlich?

Schloss-Straßen-Center, Berlin-Steglitz, kurz nach elf Uhr morgens: Wellenbrecher und Sicherheitsleute halten eine unruhig von einem Bein aufs andere tretende Menschenmasse im Zaum. Junge Mädchen fotografieren sich mit ihren Mobiltelefonen. Mütter beruhigen ihre schreienden Kinder, während Männer in Anzügen kniehohe Einkaufskörbe an die Vordersten in der Menge verteilen. Manche von ihnen warten bereits seit sieben Uhr morgens. Nun greifen sie mit der Rechten nach den Körben, in die Linke bekommen sie einen Luftballon.

Kreischen, lachen, gibbeln – dann plötzlich erhalten die ersten Grüppchen das Startsignal. „Kommt los, Mädels! Lauft! Ich geh' links, ihr rechts“, brüllt eine junge Frau Anfang 20, als sie die frisch eröffnete Verkaufsfläche des irischen Textildiscounters erreicht. Ihre Shopping-Brigade folgt ihrem Befehl. Den Korb fest in der rechten Faust, schwärmen die Kunden aus, verschwinden in den breiten Gängen zwischen den Kleiderständern. Hier finden sie weder Einzelstücke noch limitierte Kollektionen. Was sie vorfinden, ist ein Massenangebot an Billigmode in mäßiger Qualität – ohne jeden Eröffnungsrabatt. Was folgt, ist ein Kaufrausch mit Korb.

Primark ist ein 1969 unter dem Namen „Penneys“ gegründetes Tochterunternehmen des internationalen Lebensmittelkonzerns Associated British Foods, das Damen-, Herren- und Kindermode, sowie Schuhe und Haushaltsaccessoires anbietet. Die Stückzahlen der irischstämmigen Kette gleichen denen eines Lagerverkaufs, ihre Preise denen von Discountern wie Kik oder Takko, modisch aber ähnelt der Riese der schwedischen Trend-Konkurrenz von H&M.

Berlins Jugend hat sehnsüchtig darauf gewartet

„Wir sind allerdings weniger gewagt und somit noch massentauglicher“, lässt sich Primark Nordeuropa-Chef Wolfgang Krogmann zitieren. Und er muss es wissen. In den Achtzigern brachte Krogmann die erste H&M Filiale nach Berlin. Jetzt eröffnet der 56-Jährige am gleichen Standort die achte deutsche Primark Dependance, die erste in der Hauptstadt. 5500 Quadratmeter Verkaufsfläche mit 52 Kassen und 62 Umkleiden, auf die Berlins Jugend nicht nur auf den Steglitzer Bürgersteigen, sondern auch in Foren und auf Blogs sehnsüchtig gewartet hatte. Geringe Marge, sehr hohe Stückzahl, lautet das Geschäftsmodell. „Ich schmeiß alles, was mir gefällt, in meinen Korb“, erläutert eine 21-Jährige hingegen ihr Konsummodell: „An der Kasse sortier ich dann aus, was ich wirklich kaufe.“ Auf die Frage, warum sie so vorgehe, reagiert sie mit Verwunderung: „Na, damit es mir kein anderer wegnimmt?“ Anprobieren wird die Auszubildende die Kleidung vor dem Kauf nicht.

„Bei uns muss alles schnell raus. Und was sich nicht schnell genug bewegt, wird reduziert“, erklärt Krogmann das Konzept des Textilriesen. Sechsmal pro Woche soll die Berliner Filiale künftig von einem 40 Tonnen-Laster mit rund 24.000 Kleidungstücken beliefert werden. Am Eröffnungstag geht das „Schnell rein, schnell raus“-Prinzip auf, die Ware wird in rasanter Geschwindigkeit von den Regalen gerissen. Bereits nach wenigen Minuten sind die ersten Taschenständer kahl. Auf Rollcontainern folgt der Nachschub. Eine Weddinger Mutter hat sich gleich sechs Lederimitattaschen in ihren rund 20 Liter fassenden Einkaufskorb gelegt. Auf die Frage, ob sie immer mehrere Taschen gleichzeitig kaufe, reagiert sie mit einem Schulternzucken.

„Einkaufskörbe kennt man so bisher nur aus der Lebensmittelbranche. Sie auch auf dem Textilmarkt einzusetzen ist schlichtweg genial“, lobt der Berliner Konsumpsychologe Michael Schießl. In der Lebensmittelbranche gelte, desto größer der Einkaufswagen, desto mehr kaufe der Kunde. Warum sollte diese Prämisse nicht auch auf günstige Textilien anwendbar sein? „Die Menschen bekommen am Eingang mit diesem Korb automatisch die Aufgabe, ihn auch zu füllen. Zudem ist er halb durchsichtig, man kann sehen, was die anderen kaufen, und der Schwarminstinkt setzt ein.“ Bei einem Ladenrundgang weist Nordeuropa-Chef Krogmann darauf hin, dass Primark auch Koffer im Sortiment führe. Die Erfahrung habe schließlich gezeigt, dass viele Kunden bei Primark Reisegepäck kauften, um ihre Waren nach Hause transportieren zu können: „Das freut uns als Kaufleute natürlich“, so Krogmann.

Ein geringer Preis ist eine geringe Schwelle

Sara aus Neukölln und Fio aus Mitte sitzen nach einem halbstündigen Lauf durch das überfüllte Ladengeschäft gegen eine Regal gelehnt auf der Erde. Sie sind nicht allein, viele Kundengrüppchen haben sich zwischen den Haushaltsaccessoires im zweiten Stock niedergelassen. „Wir überlegen, was wir mitnehmen und was nicht“, sagt Sara, während sie sich durch ihre auf dem Boden gekippten Errungenschaften wühlt: Bademäntel, Flip Flops, Blusen, High Heels, Ringe, Ohrringe, Taschen und schwarze Stoffturnschuhe.

„Solche hast du doch schon“, Fio zeigt auf die Schuhe. „Die kosten aber nur 3 Euro“, verteidigt sich die Abiturientin und räumt die Treter in den Einkaufskorb mit den Sachen, die sie definitiv kaufen möchte. „Primark setzt auf Schwellenabbau“, erklärt Schießl. „Ein geringer Preis ist eine geringe Schwelle. Dadurch, dass es so viele Kassen gibt, sinkt zusätzlich die Schwelle, sich anstellen zu müssen. Und schon beim Betreten der Filiale stellt man fest: Alles ist flach, das Areal ist leicht zu überblicken, die Gänge sind breit und im direkten Eingangsbereich hängen Accessoires für zwei, drei Euro – so werden schon zu Beginn Kaufhemmungen abgebaut.“

Bevor es Primark in Deutschland gab, sind Sara und Fio manchmal extra nach London geflogen, um bei der irischen Bekleidungskette zu shoppen. „Da ist es jeden Tag so voll wie hier bei der Eröffnung“, sagt Sara. Vor den Shoppingurlauben hätten sie gespart, um dann bis zu 400 Pfund auf einen Schlag auszugeben. „Dafür bekommt man gut vierzig, fünfzig Teile. Das ist so billig und das hat dann auch keiner.“ Die Abiturientin hält inne. „Na ja, obwohl: bald vielleicht schon. Ich befürchte, dass bei mir der Reiz verloren gehen wird, weil es Primark jetzt auch in Berlin gibt.“ „Ey, der Ring ist geil“, wird sie von ihrer Freundin unterbrochen. „Den hol ich mir auch noch. Bleibst du hier und passt du auf die Sachen auf?“ Sara nickt, bleibt mit den Waren auf dem Boden sitzen, während es ihre Freundin schnellen Schrittes zurück in die Schmuckabteilung zieht.

„Preislich wendet sich Primark ganz klar an Teenager“, befindet Schießl „Und als Teenager steht man vor der paradoxen Aufgabe, sich auf der einen Seite individuell abzugrenzen und auf der anderen Seite trotzdem nicht anders zu sein als die Masse.“ Schießl sieht sich um: „Bei Primark hat der Teenager ein großes, erreichbares, sich schnell erneuerndes Angebot, aus dem er auswählen kann. Und da alle hingehen, ist er mit seiner Wahl auf jeden Fall auf der sicheren Seite.“

Bei Kik, Takko oder anderen Geschäften auf dem gleichen Preisniveau würden Sara und Fio hingegen nie einkaufen. „Eigentlich gefallen mir auch eher hochwertige Sachen, wie zum Beispiel von Tommy Hilfiger“, bekräftigt eine weitere, junge Kundin aus Neukölln. Im Gegensatz zu anderen Billigstheimern hat Primark es geschafft, bei der jungen Zielgruppe als hip, ja sogar als begehrenswert zu gelten.

Einkäufe werden im Internet dokumentiert

Nach der Berliner Eröffnung wurden auf Modeblogs und YouTube die Einkäufe dokumentiert. „Hauls“ nennen sich diese Veröffentlichungen. Zu Deutsch: Raubzüge. Duftkerzen, T-Shirts und Schlafanzughosen werden wie auf einem Teleshoppingkanal begeistert beschrieben und präsentiert. Schießl macht die Ladenausstattung für das hippe Image der Billigklamotten verantwortlich. Der lange Kassentresen erinnere an eine Bar und besonders dem Lichtarchitekten stellt der Konsumpsychologe ein ausgezeichnetes Zeugnis aus: „Über den Mannequins sind zum Beispiel Streulichter gesetzt. Würden die ausgestellte Kleidung, wie sonst bei Discountern üblich, mit Neonlicht voll ausgeleuchtet, sähen sie langweilig aus. Aber durch die geschickte Lichtsetzung bekommt die Ware Schatten und das Shirt für 4 Euro hat plötzlich einen gewissen Esprit.“ „Shopaholic“ steht auf einem der T-Shirts mit Betty-Boop-Aufdruck, es könnte genauso gut bei C&A, Kik, Takko oder H&M verkauft werden.

Laut eigener Aussage lasse Primark zu 98 Prozent bei den gleichen Herstellern wie seine Wettbewerber produzieren, die Qualität sei ebenbürtig. „Alle großen Anbieter treffen sich letztlich bei den gleichen Lieferanten in Pakistan, Bangladesch und Indien. Denn nur diese Hersteller produzieren nach unseren ethischen Grundsätzen“, verspricht Krogmann. Im Sinne von Ethical Trade würden die von Primark beauftragten Fabriken zudem jedes Jahr überprüft. „Wir können uns, genau wie unsere Wettbewerber auch, nicht erlauben, dass für uns in ethisch nicht vertretbarer Art und Weise gearbeitet wird“, bekräftigt der Nordeuropa-Chef. Primark könne seine Preise vor allem deswegen so niedrig halten, da sie direkt und auf Masse produzierten. „Zudem gibt es bei uns sehr effiziente Prozesse.“ Außerdem verzichte die irische Textilkette fast vollständig auf Werbung.

Außer zu seiner Eröffnung.

Der Geldautomat ist an Ort und Stelle

Anderthalb Stunden vor dem offiziellen Steglitzer Startschuss wurden Journalisten und Blogger zu Kuchen und Eröffnungsreden eingeladen. Das irische Primark-Vorstandsmitglied Breege O' Donoghue zupfte während ihrer Ansprache an ihrer Kleidung. „Dieser Mantel hat nur 35 Euro gekostet, und diese Tasche nur zehn“, feuerte sie nicht ohne Pathos auf Deutsch in die Menge. „Bei uns gibt es keinen Schnick und keinen Schnack“, betonte sie außerdem. „Es ist eine clevere Strategie auf ganze Preise zu setzen und somit auf optische Tricks, wie die 0,95-Cent-Auszeichnung, die heute ohnehin jeder durchschaut, zu verzichten“, urteilt der Konsumpsychologe. Der integere Preis würde beim Konsumenten einen aufrichtigen Eindruck hinterlassen. Aufrichtig findet es Primark im Übrigen auch, die Pressemappe für die Journalisten mit 50 Euro Einkaufsgutscheinen aufzuwerten.

Direkt neben dem Erdgeschosseingang der ersten Berliner Filiale des irischen Textildiscounts befindet sich passenderweise ein Geldautomat. Ein junges Pärchen prüft hier seinen Kontostand. „Wir wussten nicht mehr, wie viel wir auf der Karte haben“, bekennt der Schüler aus Steglitz, über dessen Arm zwei braune Primark-Tüten hängen. „Ich hab noch genug. Ich glaub' ich geh noch mal“, überlegt seine Freundin laut. In der Textilbranche gehe man derzeit davon aus, dass großflächige Angebote mit einem sehr breiten Sortiment besonders in Konkurrenz zu den Online-Shops die größten Chancen haben, beurteilt Schießl die Erfolgsaussichten des Massenkonzeptes. Da aber zu jeder Bewegung auch immer auch Gegenbewegungen entstehen, sei davon auszugehen, dass langfristig auch kleine Boutiquen mit einem stark selektierten Sortiment wieder Erfolg haben könnten. „Mittelgroße Angebote werden durch Massenanbieter, wie Primark langfristig unter Druck geraten“, glaubt der Konsumpsychologe.

Das Pärchen vom EC Automat steht längst wieder an hinten in der Schlange.