Christiane F.

Das Kottbusser Tor ist die Endstation

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Tanja Laninger

Foto: dpa / DPA

Seit 30 Jahren treffen sich die Drogenabhängigen am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Auch Christiane F., die in den 80er-Jahren mit ihrem Drogenreport vom Bahnhof Zoo berühmt wurde, soll sich dort aufhalten. Eine Parallelwelt zu den Anwohnern. Die allerdings machen sich Sorgen um ihre Kinder.

Angi fragt nach einem Taschentuch. Dann nach Zigaretten. Fragt nicht nach Geld, nicht nach Drogen. Die besorgt ihr "Kumpel". Glänzende Haut, matte Augen, kleine Pupillen – Angi redet ohne Punkt und Komma. Die Berlinerin steht am Kottbusser Tor, versteckt auf einem Treppenabsatz im Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ).

Treppen, die kaum jemand benutzt, zumindest keiner der Anwohner. Dosen, Flaschen, Scherben, Papierfetzen, Tüten, Fäkalien – all der Unrat hat sich wie ein Geschwür in den Ecken festgesetzt. Am Geländer angebunden: ein brauner Hund. "Der gehört 'nem Freund von uns, der ist gestorben.", sagt Angi. In einem Tonfall, als wäre er kurz an die Ostsee gefahren.

158 Drogentote gab es in Berlin im vergangenen Jahr, 173 Junkies starben das Jahr zuvor. Angi lebt. Sie ist eine der berlinweit bis zu 10.000 Opiatabhängigen. Sie lebt in einer der Parallelwelten am Kottbusser Tor. Wo Dealer in der U-Bahn ihren Stoff anbieten. Wo sich täglich 30 bis 60 Junkies am U-Bahn-Ausgang zur Adalbertstraße versammeln, Alkis vor Kaiser's sitzen und vor dem türkischen Supermarkt Gida. Wo Touristen herumschlendern wie durch ein Wachsfigurenkabinett. Wo der Vater mit schmalem Portemonnaie seine Familie auf einen Burger oder Döner einlädt.

Versteckmöglichkeiten im verwinkelten Bau

Seit etwa 30 Jahren treffen sich am Kotti Junkies. Der Ort bietet mit U-Bahn-Auf- und Abgängen und dem verwinkelten Baukomplex NKZ unzählige Rückzugs- und Fluchtgelegenheiten. Im Sommer wurde das Parkhaus geschlossen und verbarrikadiert. Seitdem drängen die Junkies noch mehr in die Öffentlichkeit – wo die Szene findet, was sie braucht: Händler, andere Süchtige und Passanten zum Anschnorren. Ein Freiluft-Wohnzimmer, gesellschaftlicher Treffpunkt einer schwer kranken Subkultur.

Fixpunkt und Vista, die Träger der Drogenhilfe, haben sich darauf eingestellt und bieten in einem Drogenkonsumraum und Bussen medizinische, hygienische und soziale Betreuung an. In diesem Sommer hat Teen Challenge von der Diakonie das Café Sehnsucht eröffnet. Ein ansässiger Apotheker kommentiert es so: "Projekte kommen und gehen. Junkies bleiben."

Angi ist zurück. Fünf Jahre war sie clean, seit sechs Monaten ist sie wieder auf Heroin. Das könnte sie mit Christiane F. gemein haben, als Kind vom Bahnhof Zoo Berlins berühmtester Junkie. Sie soll auch rückfällig geworden sein und sich am Kottbusser Tor aufhalten.

"Gesehen habe ich die hier nicht", sagt Angi. Christiane F. ist 46 Jahre alt, Angi 36. Beide sehen älter aus. Beide wurden in früher Jugend süchtig. Typisch für die Endstation Kotti: Altfixer prägen das Bild. "Oft sind sie schwer körperlich gezeichnet und in sozial desolatem Zustand", sagt Monika Wojak vom Suchtreferat der Senatsverwaltung für Gesundheit.

Menschen wie Angi. Obdachlos. Hustend. Mit blutigen Schrammen im Gesicht. Wenn Angi sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr schiebt, sieht man kein Läppchen, sondern dunkelrote Kruste. "Ich bin mal mit Ohrringen hängen geblieben, hab's mir aufgerissen, wollte das nicht nähen lassen. Ich habe Angst vor Spritzen. Ja! Echt! Obwohl ich auf Heroin bin." Eine Kugel Heroin kostet zehn Euro. Junkies wie Angi brauchen vier bis fünf pro Schuss. Woher sie das Geld nimmt? "Ich krieg Hartz IV. Anschaffen gehe ich nicht."

Gary Menzel, Leiter des zuständigen Polizeiabschnitts 53, sagt, dass es am Kottbusser Tor nicht signifikant mehr Raubtaten gebe als an anderen Orten - allen Vorurteilen zum Trotz. "Wir verzeichnen auch keine Übergriffe auf die Anwohner", sagt Menzel. Allerdings sei das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung wegen der sichtbaren Präsenz der Drogenabhängigen deutlich getrübt.

"Beschaffungskriminalität gibt es hier eigentlich nicht", bestätigt Dönerverkäufer Ali (Name geändert) und tätschelt einen silbernen Baseballschläger. Alkohol und Kaffee würden ihm zum Kauf angeboten, "aber den klauen die in den größeren Geschäften." Auch Fahrräder. Und Handys und Laptops. "Besser, man lässt nichts Wertvolles im Auto liegen."

Einmal, sagt Ali, habe ein Junkie das Verkaufsfenster mit der Eingangstür verwechselt und reinklettern wollen. "Der ließ nicht locker. Ich habe zugeschlagen, der ging zu Boden, ist aber wieder aufgestanden. Ich habe wieder zugeschlagen. Steht der wieder auf. Mein Arm war voller Blut. Der Typ hätte k.o. sein müssen. Aber er hatte Tabletten geschluckt."

Ruppis, Dextras, Tavor - Maria Vandreike kann die Kurzbezeichnungen für Tabletten mit den Wirkstoffen Rohypnol und Diazepam runterbeten, die das Angst- und Schmerzempfinden dämmen. Vandreike arbeitet im Café Sehnsucht von Teen Challenge, der Verein schickt Streetworker seit zehn Jahren an den Kotti. Sie bringen Junkies Kaffee und Brötchen und bieten sich als Gesprächspartner und Ausstiegsberater an - Gebäck, Gebet und Glauben inklusive.

Immer mehr junge Frauen betroffen

"Viele Süchtige am Kotti sind politoxoman", sagt Vandreike, "sie schlucken Tabletten, nehmen Heroin und Kokain, rauchen Joints und trinken Alkohol."

Neben den zumeist männlichen Altjunkies fallen neuerdings Russen und jüngere Frauen auf, sagt Kerstin Dettmar von Fixpunkt.

Den Eindruck hat auch Sinan Tosun. Der 36-Jährige verkauft in den verwinkelten Gängen im NKZ HipHop-Klamotten. Wenn er sich mit einem Glas Wasser auf die Stufen zum Kinderspielplatz setzt, zählt er sie: zehn, zwölf, zwanzig Mädchen. Sie kommen aus den Treppenhäusern, oft mit Spritzen in der Hand. "Die Hausverwaltung sagt, sie will Kameras installieren und 24-Stunden-Security einführen. Darauf freue ich mich."

In seiner Jugend habe er selber "Mist gemacht". Sinan und sein Bruder Muci gehörten zu der Kreuzberger Straßengang 36Boys. Eine Körperverletzung folgte auf die nächste. Muci ist heute Kickbox-Weltmeister, Sinan setzt auf Sport, Musik und die Macht des Wortes. "Ich will mit Kindern reden, damit sie gar nicht erst Drogen nehmen."

Um die Kinder machen sich viele Sorgen. Wenn Grundschüler das Kreuzberg-Museum besuchen, bedingen sich Eltern und Lehrer aus, dass Museumspädagogen die Schüler eskortieren. "Kann man verstehen", sagt Peter Renn, seit vier Jahren Mitarbeiter in der Institution direkt hinter dem NKZ an der Adalbertstraße. Man erkennt das Haus an seinem Glasturm über dem Eingang. Renn findet unterm Dach im Winter oft Spritzbesteck. Sonst gebe es mit den Junkies weder Kontakt noch Konflikte. "Sie tun keinem was. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, nicht umzukippen."

Heroin macht high und führt in eine andere Welt. Angi lässt es sich spritzen. Im Druckraum an der Dresdner Straße, keine 200 Meter Luftlinie entfernt, war sie noch nie. Dort können Junkies ihren Stoff spritzen oder rauchen und erhalten Beratung und Unterstützung zum Ausstieg. 120 Personen waren im Juli zu Besuch. Für drei Drogenkonsumräume hat das Land im vergangenen Jahr 400 000 Euro gezahlt. Eine sinnvolle Ausgabe, sagt Wojak: "Wir erreichen dort Altfixer und zunehmend jüngere Abhängige, die keinen Zugang zu Hilfeangeboten haben. Das ist eine Chance."

Angi sagt, sie gehe vielleicht mal hin. Ihr Kumpel kommt zurück. Die zwei verschwinden in der Tiefe des Treppenhauses. Das Rattern der U-Bahn erklingt. Eine Tür öffnet sich. Eine dicke Frau schlendert zum Mülleimer. Slipper geputzt, Bluse gebügelt, Haare gewaschen. Sie sammelt Plastikflaschen. An einem Ort wie diesem sieht sie aus wie das blühende Leben.