Ein Spaziergang mit Barbara Schneider Kempf, Generaldirektorin der Staatsbibliothek Berlin.

Wir haben uns am Reiterstandbild des Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1620 bis 1688) vor dem Schloss Charlottenburg verabredet. Wohl bedacht von Barbara Schneider-Kempf. Denn der Kurfürst hat einst begründet, was heute als Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz weltweiten Ruf genießt und deren Generaldirektorin Frau Schneider-Kempf ist.

Der Große Kurfürst war der, der die Schweden 1675 bei Fehrbellin geschlagen hat und seitdem der „Große“ war, der 1685 mit dem Edikt von Potsdam bedrohte Hugenotten aus Frankreich ins Land holte und damit die Tradition der preußischen Toleranz begründete und der durch Reformen das durch den Dreißigjährigen Krieg verwüstete Brandenburg wirtschaftlich wieder voranbrachte.

Eine ganz seltene Gutenberg-Bibel lagert in der Bibliothek

Die von ihm 1661 begründete Bibliothek war nicht unbedingt eine in unserem heutigen Sinne. Seine Privatsammlung, untergebracht im Apothekerflügel des Berliner Schlosses. Aber die war immerhin schon öffentlich zugänglich. Und was er dort zusammengetragen hat, kann sich sehen lassen. Bis heute. „Seine Sammlung ist unser Gründungsbestand. Dazu gehören ein Gemälde von Cranach, chinesische Drucke und eine Gutenberg-Bibel; eine besonders schöne Pergamentausgabe, wunderbar illustriert. Davon gibt es weltweit nur noch 40 Exemplare.“

Der schwärmerische Stolz auf dieses Erbe aus der Gründungszeit ist nicht zu überhören, als die Generaldirektorin von diesem Schatz berichtet. Es bleibt nicht bei diesem einen Gefühlsausbruch. Zu viele weitere Schätze lagern in den beiden Häusern Unter den Linden und Potsdamer Straße. Ersteres bleibt wegen der noch nicht ganz abgeschlossenen Sanierung und Neusortierung des millionenfachen Bestandes für die Öffentlichkeit noch geschlossen. Wohl bis Ende Mai, Anfang Juni nächsten Jahres. Darüber werden wir später noch etwas konkreter reden.

Der weltweit größte Bestand an Bach-Handschriften

Die Staatsbibliothek versteht sich als „wissenschaftliche Universalbibliothek“. Was darunter zu verstehen ist, erklärt mir die Chefin so: Es gibt zwei Kategorien von Bibliotheken. Öffentliche wie in Berlin die Amerika-Gedenkbibliothek und die Stadtteilbibliotheken in den Bezirken, deren Bestände vor allem auf Literatur fokussiert sind. Und dann gibt es die wissenschaftlichen Bibliotheken, das sind vor allem Universitäts- und Staatsbibliotheken. Der Zusatz „universal“ bedeutet, dass alle Fächer und alle Sprachen gesammelt werden. „Aber das gilt heute für uns angesichts der Fülle des Materials nicht mehr. Wir haben uns vor zehn Jahren für ein begrenztes Profil entschieden mit den Schwerpunkten Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Was fehlt, sind besonders die Bereiche Medizin und Technik. Nur unser Altbestand ist noch universal.“

Eine wahre Schatzkammer, die für alle interessierten Nutzer weitgehend zugänglich ist. In ihr lagern unzählige Musikautografen, also Handschriften unserer größten Komponisten. Wieder mit unüberhörbarem Stolz zählt sie die Namen der Unsterblichen auf: „Wir – und nicht etwa Leipzig – haben mit 80 Prozent den weltweit größten Bestand der Handschriften von Johann Sebastian Bach, bis auf ,Don Giovanni’ alle Meisteropern von Mozart. Auch der größte Teil der Handschriften Beethovens wird nicht in seiner Geburtsstadt Bonn, sondern bei uns bewahrt. Anlässlich seines 250. Geburtstags im nächsten Jahr planen wir für März bis Mai eine große Beethoven-Ausstellung. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich die Handschriftensammlung Felix Mendelssohn Bartholdys.“

Vertrag wird über die offizielle Pensionsgrenze hinaus verlängert

Auf all das, die etwa zwölf Millionen Bücher im Bestand und vieles mehr kann eine Generaldirektorin des Hauses wahrlich stolz sein. Aber Barbara Schneider-Kempf vermittelt nicht etwa den Eindruck der Wichtigtuerei. Im Gegenteil. Ihre Freundlichkeit verströmende Stimmlage signalisiert eher Bescheidenheit, sie spricht angenehm langsam und mit Bedacht, sodass ich ohne viele Nachfragen verstehe, wovon ich vorher nicht allzu viel gewusst habe.

Und wenn dazu noch eine lange berufliche Erfahrung und immer wieder Empfehlungen für den nächsten Karriereschritt von Dritten kommen, dann verwundert es weniger, dass ihr Vertrag gerade über die offizielle Pensionsgrenze hinaus verlängert worden ist. Dafür gebe es mehrere gute Gründe, zitiert sie Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) und kann sich ein Lächeln dabei nicht ganz verkneifen.

Gut vermummt sind wir bei diesigem Wetter und scharfem Wind ums Schloss Charlottenburg spaziert. Dessen ersten Bau hat übrigens Sophie Charlotte von Hannover, Ehefrau des Kurfürsten Friedrich III. und Sohn des Großen Kurfürsten, in Auftrag gegeben. Die feuchte Kälte hat uns dann zur späten Vormittagsstunde ins gerade geöffnete Schlosspark-Café getrieben. Bei wärmendem Cappuccino und Espresso hake ich noch einmal bezüglich der Wiederöffnung der dann grundsanierten Staatsbibliothek Unter den Linden nach.

Der Bundespräsident soll zur Eröffnung kommen

„Ich kann mich noch nicht auf den Tag festlegen. Aber Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der wir gehören, drängt mich schon seit Längerem. Bei der Eröffnung der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße 1978 war Bundespräsident Walter Scheel Ehrengast. Insofern würde ich mir sehr wünschen, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung kommt. Das braucht natürlich einen zeitlichen Vorlauf, aber die Anwesenheit des Bundespräsidenten würde sogar eine gewisse Tradition begründen.“

Die Berliner Staatsbibliothek besteht – der einstigen Teilung der Stadt wegen – aus zwei Häusern, dazu kommt ein Depot in Friedrichshagen für weniger nachgefragte Werke. Dabei sei es ganz wichtig, so die Generaldirektorin, zu unterscheiden zwischen dem allgemeinen Bestand (historisch und modern) und den Sondersammlungen, wie den bereits erwähnten Musikhandschriften. Das Haus Unter den Linden ist, um es nicht zu kompliziert zu machen, stärker historisch ausgerichtet; das Haus an der Potsdamer Straße an der Neuzeit (beginnend mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) orientiert und damit eine moderne Forschungsbibliothek.

Erst einmal studierte sie Architektur

In der Vorbereitung unseres Spaziergangs habe ich natürlich auch den Lebenslauf von Barbara Schneider-Kempf zurate gezogen. Und dabei voller Überraschung gelesen, dass die Generaldirektorin der Staatsbibliothek Architektur studiert hat. Wie schafft man denn den Sprung vom Bauen zum – Pardon – Bücherwurm? „Mein Vater war Architekt, und da ich nach dem Abitur nicht recht wusste, was ich studieren wollte, habe ich es ihm erstmal gleichgetan. Aber ich habe bald gemerkt, dass ich diesen Beruf nicht ausüben wollte. Dann überlegte ich, journalistisch für Architekturzeitschriften zu arbeiten. Doch das Gefühl überwog, dafür nicht begabt genug zu sein. Und ich hab‘ mich auch gefragt, ob die wohl auf mich warten …“

Dann der richtige Entschluss. Sie macht Anfang der 80er-Jahre an der Universitätsbibliothek Kaiserslautern und der Fachhochschule Köln ein Referendariat für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken. Das bestand aus einem einjährigen praktischen Teil in einer Bibliothek und einem theoretischen samt Examensabschluss. Gefragt, ob ihr Erststudium eher eine Ausnahme für den späteren Beruf war, schüttelt sie leicht den Kopf und verweist auf Klaus-Dieter Lehmann, Parzingers Vorgänger als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und heute Präsident des Goethe-Instituts. „Er hat Mathematik und Physik studiert, bevor er Bibliothekar wurde. Die Mehrzahl der Kolleginnen und Kollegen sind allerdings Germanisten, Historiker und Politikwissenschaftler.“

Nach einem Berufsdebüt in Hannover wird sie 1988 Leiterin mehrerer Dezernate an der Universitätsbibliothek in Duisburg. 1992 verlässt sie den Westen gen Osten. In Potsdam baut sie die neu gegründete Universitätsbibliothek auf und wird deren Direktorin. Die Bewerbung dorthin war ihr empfohlen worden im Rahmen der Länderpartnerschaft Nordrhein-Westfalens mit Brandenburg nach dem Ende der DDR. Wiederum auf Empfehlung bewirbt sie sich vier Jahre später um eine Spitzenposition in der Staatsbibliothek Berlin. Deren Generaldirektorin ist sie seit 2004.

Für die Kosten gab es großes Verständnis

Besonders freut sie sich über das offenkundig große Verständnis der Berliner für die doch beträchtlichen Kosten der Grundsanierung des Altbaus in seiner wilhelminischen Prunkarchitektur wie auch für jene Kosten des neuen lichtdurchfluteten Lesesaals in Höhe von fast einer halben Milliarde Euro. „An der Summe gab es so gut wie keine Kritik. Das hängt wohl auch mit den Kulturschätzen zusammen, die diese Bibliothek bewahren darf, weshalb sie in der Bevölkerung eine gute Reputation hat.“ Daran müssen sowohl der Flughafen BER wie das Humboldt Forum noch hart arbeiten.

Apropos Humboldt. Auch da kann die Staatsbibliothek mit einer Rarität aufwarten. In einer „Jahrhunderterwerbung“, so die Generaldirektorin, sei 2013 der Kauf der amerikanischen Reisetagebücher von Alexander von Humboldt aus Privatbesitz gelungen. Die geforderte hohe Millionensumme (genaue Höhe öffentlich nicht bekannt) wurde durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie Spenden fast aller namhaften deutschen Stiftungen aufgebracht. „Teil eines sich anschließenden Forschungsprojekt war die Digitalisierung der neun Bände. Die Tagebücher werden damit auch für die breite Öffentlichkeit online zugänglich.“

Es werden auch Bücher für 30 Euro erworben

Die Staatsbibliothek verwahrt also nicht nur, sie erwirbt auch. Nicht immer so spektakulär und teuer wie im Fall Humboldt oder beim Kauf einer millionenschweren Bach-Kantate dank einer großzügigen Sonderzahlung aus dem Hause von Kulturstaatsministerin Grütters. „Aber es geht nicht immer um Millionenbeträge. Wir kaufen auch ganz normale aktuelle Bücher. Auch mal für 30 Euro.“

Als hätte die Frau nicht schon genug zu tun, ist Barbara Schneider-Kempf auch noch in 14, das immerhin weist der Lebenslauf aus, Gremien engagiert. Wie sie das denn zeitlich schaffe, möchte ich am Ende unserer Begegnung wissen. „Wirklich so viele?“, zeigt sie sich selbst überrascht. „Die meisten haben fachlich mit meiner Position als Generaldirektorin zu tun. Aber es gibt ein Ehrenamt, das ich mir schöner nicht vorstellen kann. Im April bin ich zur Vorsitzenden der ,Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten’ gewählt worden. Thematisch hängen Bibliothek und Schlösser ja durchaus zusammen.“

Und mit einem Schuss Humor ergänzt sie ihre große Freude mit der Bemerkung, dass sie ja nicht unendlich Generaldirektorin bleibe. „Auch danach kann ich viel Wissen und Erfahrung in dieses Ehrenamt einbringen. Und wie ich immer sage, die Herren der Schlösser waren auch die Herren unserer Bücher.“ Die Anspielung auf Preußens Herren hat aber auch Grenzen. Das generalsanierte, salonähnliche Generaldirektoren-Dienstzimmer, jetzt das ihre, hat Barbara Schneider-Kempf nach langer Suche nach einer Frau benannt. Nach Rahel Varnhagen (1771–1833). Der literarische Salon der Schriftstellerin galt unter Berlins Intellektuellen als legendär. Passt ganz gut dazu, wie sich die Frau an der Spitze von Deutschlands größter Staatsbibliothek in der nachpreußischen Männergesellschaft behauptet.