Berlin. Nur Schuhe, Hosen und Jacken zu verkaufen, reicht Europas größtem Onlinemodehändler nicht mehr. Zalando wandelt sich zum Technologieunternehmen. Vorstandsmitglied Robert Gentz erklärt die Strategie.
Berliner Morgenpost: Herr Gentz, Zalando hat gerade in Helsinki einen Entwicklerstandort eröffnet. Warum?
Robert Gentz: Berlin ist ganz klar unser Hauptfokus, aber Metropolen wie Helsinki und Dublin, wo wir ebenfalls in diesem Jahr einen Tech Hub eröffnet haben, bieten ein einzigartiges Tech-Ökosystem mit führenden Universitäten, Start-ups und Talenten, das wir nutzen möchten. Und es eröffnet gleichzeitig für die Berliner Kollegen die Möglichkeit, für eine bestimmte Zeit oder auch ganz in diesen spannenden Städten arbeiten und leben zu können.
Was macht das neue Team in Helsinki für Zalando?
Sie werden vor allem mobile Anwendungen entwickeln. Das ganze Ökosystem um Helsinki herum ist wegen Nokia sehr „mobil“ orientiert.
Das ist auch der Teil, der bei Ihnen stark wächst?
Der Teil, der uns gerade am meisten beschäftigt. 80 Prozent der Zeit, die Menschen an ihren Smartphones verbringen, verbringen sie innerhalb von Apps. Wie sieht eine App für den Modebereich aus, die die beste Konsumentenerfahrung bringt? Das ist eine der größten Aufgaben, die wir in Helsinki lösen wollen.
Das müssen Sie erklären.
Erst einmal geht es um die grundsätzliche Frage: Welche Probleme gibt es im Modehandel, die man mit einer eigenständigen mobilen Entwicklung lösen kann? Wenn ich am PC sitze, nutze ich einen Browser und sehe ganz lange Katalogreihen. Ich suche und komme irgendwann zum Produkt. Wenn ich über das Mobiltelefon gehe, bin ich in einer völlig anderen Nutzungssituation und es gibt viele weitere Möglichkeiten. Der Nutzer teilt seinen Standort über die GPS-Funktion mit, er nutzt Spracherkennung, und auch eine Kamera ist im Gerät eingebaut. Andererseits ist der Bildschirm nicht geeignet, um ellenlange Katalogseiten zu durchsuchen.
Es gibt schon eine Foto-App von Zalando. Ich fotografiere eine Person, weil mir die Jacke gefällt, und die App zeigt mir im besten Fall an, welche Jacke das ist, und bietet mir die Chance, sie direkt zu bestellen. Was ist da noch möglich?
Visuelle Erkennung steckt noch in einer sehr frühen Phase. Das ist zurzeit auch nicht unbedingt die wichtigste Anwendung. Aber nehmen Sie das Thema Standortanbindung, das ist einer der großen Bereiche, in die wir stark investieren. Das Smartphone gibt dem Konsumenten die Chance, sich Ware dorthin liefern zu lassen, wo er gerade ist, und nicht dorthin, wo er wohnt. So etwas geht nur über mobile Anwendungen. Dadurch wird sich auch die Liefergeschwindigkeit enorm erhöhen.
Sie planen die Zustellung binnen 30 Minuten.
Die schnellste Zustellung bisher haben wir binnen viereinhalb Stunden geschafft.
Wie geht das?
Zurzeit testen wir das „Same Day Delivery“-Angebot in Berlin und Köln. Der Kunde bestellt, wir stellen fest, dass die Ware in dem lokalen Logistikcenter vorrätig ist. Für Berlin ist das Brieselang. Dann überraschen wir den Kunden mit einem kostenlosen Upgrade, er bekommt gegen 16 Uhr eine Nachricht, und wir stellen am Abend zwischen sieben und neun Uhr zu. Das ist aber nur der erste Schritt. Der zweite Schritt wäre, Ware aus angebundenen lokalen Geschäften für unsere Kunden verfügbar zu machen. Dann lassen sich Sachen auch binnen einer halben Stunde zustellen. Das ist natürlich immer noch sehr sportlich.
Plant Zalando echte Filialen?
Nein. Aber wir müssen als Unternehmen völlig anders über die Probleme nachdenken, die wir lösen wollen und können. Es geht nicht mehr nur darum, Waren bereitzustellen und dann zu hoffen, dass der Konsument bei uns auf die Seite kommt und etwas bestellt, was wir dann verschicken. Der Konsument kommt zu uns, weil wir sein Problem lösen. Er möchte etwas entdecken und dann möglichst schnell haben – zu dem Preis, den er bei uns auf der Seite sieht. Ihm ist egal, ob wir das Produkt in Erfurt im Logistikzentrum haben oder ob es der Laden an der Ecke hat. Wir müssen also auch dem Laden die Möglichkeit geben, das Produkt schicken zu können. Wir sind dann Vermittler.
Sie öffnen das enge Zalando-System also.
Genau. Markenartikler oder Händler, die über Online nachdenken, haben ein grundsätzliches Problem: Baue ich das selbst teuer auf und warte es oder nutze ich bereits bestehende Angebote und stelle mir da aus den Diensten, die permanent weiterentwickelt werden, zusammen, was am besten für mich passt. Und solch eine Plattform wollen wir bei Zalando für den gesamten Modehandel, die gesamte Modeindustrie, entwickeln.
Sie haben seit Frühjahr auch einen Standort in Dublin. Was machen die Entwickler dort?
Das ist unser Fashion Insights Center, ein rein datenorientierter Standort. Die Datenwissenschaftler kümmern sich um Fragen wie: Was kann ich alles zu einem Artikel wissen, welche Informationen kann ich bereitstellen für Themen wie Personalisierung für den Kunden und bessere Planungsmöglichkeiten für den Handel?
Können Sie dann auch vorhersagen, was im Frühjahr oder Sommer nächsten Jahres Trend ist?
Idealerweise schon, die richtige Vorhersage ist so eine Art Gral der Modeindustrie. Allerdings darf man Trends nicht nur aus der Vergangenheit heraus vorhersagen. Das funktioniert nicht. Man muss sehr viele Informationen auch aus anderen Quellen destillieren. Zwei einfache Beispiele: Vieles, was dieses Jahr in Großbritannien Trend ist, kommt in Deutschland ein Jahr später. Und was auf den Laufstegen zu sehen ist, braucht ein oder zwei Jahre in den Massenmarkt. Es gibt auch noch spannendere Themen: Über welche Trends wird viel in Social Media diskutiert, was wird dort viel gesucht. Wir haben natürlich ein starkes Eigeninteresse an den Ergebnissen, stellen die aber auch unseren Markenpartnern zur Verfügung, damit sie besser planen können.
Der größte Standort?
Berlin. Jedes Team draußen ist in Berlin noch einmal gespiegelt. Die Hamburger zum Beispiel machen Werbung, in Berlin gibt es auch ein Werbeteam. Das Data-Team aus Dublin hat Kollegen in Berlin, und es gibt hier auch Entwickler für mobile Anwendungen. Und in Berlin arbeiten wir am Kern der Plattform, an der Frage wie dieses Ökosystem für die Modewelt aussieht.
Wie viele Entwickler beschäftigt Zalando?
Über 800 sind es mittlerweile, bei knapp über 9000 Beschäftigten.
Wie viele Entwickler sollen es noch werden?
Wir wollen bis Ende 2016 2000 Entwickler beschäftigen. Wir können wahnsinnig viele Potenziale in dieser Modewelt heben, vor allem durch technische Lösungen. Und wir sehen, dass der Mehrwert von technischen Lösungen immer größer wird.
Eine große Zahl auf dem schon sehr leer gefegten Entwicklermarkt.
Na ja. Schauen Sie in die USA. Wenn ich in Stanford Software Engineering studiere, träume ich eigentlich davon, bei Facebook, bei Google oder bei Twitter anzufangen – bei den Unternehmen, die an den wirklich großen Problemen arbeiten. Wenn ich Informatikstudenten aus München heute nach ihren Traumarbeitgebern frage, hätte niemand einen klaren Namen im Kopf. Angesichts der Fragen, die wir in der Modeindustrie beantworten wollen, haben wir allerdings gute Chancen: Wir wollen das europäische Techunternehmen schlechthin werden. Damit jeder Softwareingenieur, der aus der Uni kommt, sich vorstellt: Mein idealer Arbeitgeber wäre Zalando.