Oliver Samwers Berliner Start-up-Schmiede Rocket Internet sammelt 100 Millionen Euro für den russischen Zalando-Klon Lamoda. Ausgeben muss das Geld ein 26 Jahre alter Manager aus Deutschland

Niels Tonsen ist 26 Jahre alt, kann einen Abschluss der edlen wie teuren Privatuni EBS Oestrich-Winkel vorweisen und ist derzeit Chef von 1200 Mitarbeitern. Mit denen zusammen soll er jetzt 130 Millionen Dollar sinnvoll ausgeben. Sein Spielfeld dafür ist riesig. Es umfasst die Weiten Sibiriens genauso wie den immer noch gehörig großen Europateil Russlands diesseits des Ural, die Ukraine, Kasachstan demnächst vielleicht auch Weißrussland. Der junge Deutsche steuert aus Moskau das Geschäft des Modeversenders Lamoda. Kontrolliert wird aber er aus Berlin.

Deutschlands wichtigster Netzkonzern Rocket Internet hat mal wieder eine horrend hohe Summe Geld eingesammelt. Der Fließbandgründer aus der Berliner Johannisstraße, hinter dem die drei Brüder Alexander, Marc und Oliver Samwer stehen, schwatzte Investoren 130 Millionen Dollar – umgerechnet knapp 100 Millionen Euro – für die russische Schwester von Zalando ab. Angeblich hat niemand jemals zuvor soviel Geld in ein russisches Internetkaufhaus gesteckt. Das ganze ist Teil der Samwer-Rocket-Vision, die grob gesagt, so aussieht: Mit viel Kapital, deutschem Fleiß und preußischer Disziplin globale Handelsgiganten des Netzzeitalters schaffen.

Hohe Erwartungen an das Lamoda-Management

Keine geringe Aufgabe für Niels Tonsen und sein Team. Der Erwartungsdruck, der auf ihm und seinen Mitstreitern lastet, ist mit „riesig“ wohl noch unzutreffend umschrieben. Tonsen, der seit Lamoda-Gründung 2011 dabei ist, bekam schon mal den Zorn von Rocket-Übermanager Oliver Samwer zu spüren. Vor zwei Jahren forderte Samwer in einer E-Mail an Manager einer Rocket-Gründung einen „Blitzkrieg“, um einen Markt aufzurollen. Die Mail gelangte an das Internetportal „Techcrunch“ und die zitierten ausführlich daraus.

Mal motiviert Samwer in dem Schreiben, meistens aber droht er. Ein Negativbeispiel aus dem Rocket-Reich stellt er heraus: Lamoda in Russland. „Our team fucked up in Russia“, schrieb Samwer, was behutsam übersetzt ungefähr heißt: Unser Team in Russland hat es verbockt.

Über Samwers „Blitzkrieg“-Mail mag niemand mehr reden

Oliver Samwers „Blitzkrieg-Mail“ gilt längst als legendäres Dokument der globalen Start-up-Community. Trotzdem verständlich, dass Niels Tonsen nicht drüber reden mag. Ist ja auch schon eine Weile her. Und für ihn und Lamoda spricht schon mal die Tatsache, dass es sie noch gibt. Denn verfehlen Neugründungen die Erwartungen, zögern sie bei Rocket Internet nicht allzu lange mit harten Entscheidungen. Gründerteams werden abberufen, Firmen auch schnell wieder zugemacht.

Doch Russland entwickelt sich überaus ermutigend, wie Tonsen sagt. Um mehrere hundert Prozent sei man gewachsen, der Umsatz liege im dreistelligen Millionenbereich. Profitabilität sei in Sicht. „Das Preisniveau ist hoch, man kann gute Margen erzielen“, sagt Tonsen. 800 Marken hat Lamoda im Angebot und mittlerweile mehr als eine Million Kunden, wie er sagt.

Mit dem Geld der Investoren will Lamoda im Riesenreich expandieren und das Angebot erweitern. Dabei hat der russische Markt für einen Modeversender nach Zalando-Vorbild einige Besonderheiten. Der Service der russischen Staatspost entspricht weitgehend dem Vorurteil, das viele im Westen haben mögen. „Auslieferungen können schon mal drei bis vier Wochen dauern“, sagt Tonsen.

Eigene Kurierfahrer

Deshalb hat Lamoda rund 300 eigene Kurierfahrer. In zehn Städten sorgen sie dafür, dass die bestellte Ware am nächsten Tag beim Kunden ist. Mit dem frischen Geld soll der Service auf 25 russische Metropolen ausgedehnt werden. Die Mitarbeiter in den Kleintransportern haben neben dem Ausfahren der Ware noch viel mehr zu tun. Russen misstrauen Geldüberweisungen via Internet, weswegen, wie Tonsen sagt, mehr als 90 Prozent der Geschäfte in bar abgewickelt werden. Die Kurierfahrer kassieren meistens direkt beim Kunden.

Und sie bieten auch wenig Stilberatung. Bestellt eine Russin zum Beispiel vier Paar Schuhe, dann darf sie erst einmal probieren. Der Bote wartet und kann, sofern gewünscht, ein Urteil abgeben. Das hilft im Zweifel dabei, die Quote der Rückkehr-Ware gering zu halten. Bei 40 Prozent liegt sie Tonsen zufolge. Seine Botschaft: „Wir bieten ein deutlich höheres Serviceniveau als in Russland üblich.“

Dienstleistungskultur hat es in Russland offenbar ähnlich schwer wie Demokratie. Dennoch glauben die namhaften Investoren, dass die Berliner von Rocket Internet das schon hinbekommen. Unter den Geldgebern für Lamoda sind der russischstämmige US-Milliardär Leonard Blavatnik und der deutsche Einzelhandelskonzern Tengelmann. Blavatnik ist mit seiner Beteiligungsfirma Access Industries neben dem schwedischen Investmenthaus Kinnevik wichtigster Rocket-Geldgeber. Auch Tengelmann hat in zahlreiche Beteiligungen, darunter Zalando, investiert.

Zalando-Ableger in aller Welt

Rocket Internet konzentriert sich mit seinen Neugründungen immer mehr auf jene Erdregionen, wo die Wirtschaft schnell wächst. Der Zalando-Ableger in Lateinamerika heiß Dafiti. In der Golfregion mischen die Berliner mit Namshi den Klamottenversand über das Netz auf. Für Zalora in SüdostasiIn Südostasien reichten Investoren vor wenigen Wochen rund 80 Millionen Euro rüber.

Das Muster ist nahezu immer dasselbe: Rocket Internet wirbt an Eliteunis und in Unternehmensberatung junge, hungrige Manager an und bildet daraus Gründerteams. Unter dem strengen Blick der Samwer-Brüder bauen die Jungmanager/-unternehmer die Firmen auf. Zumeist hat Oliver Samwer zuvor bei äußerst wohlhabenden Menschen um Geld für seine Firmen nachgesucht. Sein Versprechen: Ich weiß besser als die allermeisten, wie Internethandel im großen Stil geht.

Das Versprechen versucht Rocket Internet vor allem mit Online-Shops zu den Themen Mode und Möbel einzulösen – und zwar auf der ganzen Welt. Ob es gelingt, ist noch völlig offen.