Behinderte Künstler wie Stefan Stockfleth schöpfen aus sich selbst heraus. Ihre Werke sind völlig unbeeinflusst von jeder akademischen Kunstströmung. Häufig ist die Kunst Teil ihrer Therapie.
„Searching for the big balloon”, „Warnung - Spielzeug”, The reason and the view of Piecha” – so fantasievoll die Namen der Bilder von Stefan Stockfleth sind, so anregend wirken sie auf den Betrachter. Die Figuren darauf, mal mit unheimlichen Masken, mal nur grob angedeutet, sind in Bewegung – ein knallroter Ballon schwebt vorbei, im Hintergrund sind Makrostrukturen unter vielen Farbschichten zu erkennen, wie Bilder im Bild. Und immer ist zu spüren: Vergnügen und Erschrecken liegen hier nah beieinander.
Startet mit einer Monotypie
Stefan Stockfleth hat nie einen Malkurs belegt, sondern sich verschiedene Techniken selbst beigebracht: „Aus Geldmangel habe ich zum Beispiel Bilder übermalt. Irgendwann merkte ich, dass es ein Erlebnis ist, auf ältere Schichten neue aufzutragen. Das Bild kommt mir dann vor wie eine Skulptur.” Wenn er mit Acryl auf Leinwand malt, fließen die Farben ineinander und übereinander. Er benutzt gern große, breite Pinsel, mit denen er selbst feinste Striche hinbekommt. Zurzeit beginnt er seine Arbeiten meist mit einer Monotypie: Dafür bepinselt er verschieden dicke Folien mit Farbe und drückt sie auf die Leinwand. Die Formationen, die dabei entstehen, bilden die Grundlage für das Bild.
Ausdruck seiner Gefühle
Oft weiß Stefan Stockfleth nicht, was dabei herauskommen wird, wenn er sich eine weiße Leinwand schnappt. „Früher habe ich einfach los gemalt, die Motive kamen meist von Innen, waren Ausdruck meiner Gefühle”, erklärt er. Heute lässt er sich inspirieren, zum Beispiel von Worten auf Plakaten, von weinenden Fußballfans nach einem Bundesligaspiel oder von seinen Mitbewohnern im sozialtherapeutischen Wohnprojekt von Pro Seniore, einem vollstationären Heim für seelisch behinderte Menschen. Er ist ein Künstler mit Leib und Seele – ohne seine Kunst würde er wohl heute nicht mehr leben.
Wenn er malt, erlebt er seine Geschichte noch einmal. „Es hilft mir dabei, sie zu verarbeiten”, sagt der 53-Jährige. Er begann schon in der Kindheit, massiv Alkohol zu trinken, hatte mit 19 Jahren seinen ersten Entzug. Es folgten viele weitere Abstürze, Psychosen und Klinikaufenthalte. Die Kunst hat ihn stets begleitet: „Ich habe sogar in der Psychose gemalt, die Bilder waren stark von inneren Erlebnissen geprägt. Nur wenn ich trinke, kann ich nicht malen, nichts anderes machen, und brauche auch lange, um wieder ins Leben zurück zu finden.” Es ist ein langwieriger, harter Kampf, dem Stefan Stockfleth sich stellt. Indem er ihn bebildert, kann er Rückschläge, aber auch positive Erfahrungen besser annehmen.
Malen als Therapie
Das Malen ist für ihn Therapie und Berufung zugleich: Es fließt aus ihm heraus, drängt ihn, künstlerisch tätig zu sein: „Ich muss etwas schaffen.” Und nicht nur Bilder. Schon als Jugendlicher hat er Musik gemacht, mit selbst gebauten Boxen und geliehener Gitarre. Jetzt nutzt er regelmäßig den Bandraum im Wohnprojekt und produziert sogar eigene CDs. Dafür nimmt er Gitarre, Bass und Gesang auf, unterlegt sie mit einem Drum-Computer und stellt das Ganze an einem Mischpult in seinem Zimmer zusammen. Sogar die Liedtexte schreibt Stefan Stockfleth selbst, wie auch Gedichte und Kurzgeschichten. Aber die Malerei nimmt bei ihm den größten Raum ein – im wahrsten Sinn des Wortes.
„Ich bin angekommen“
Sein Zimmer, in dem er lebt und arbeitet, hat er kürzlich umgebaut. Jetzt kann er sein Bett hochkant an der Wand verstauen, um mehr Platz für die großformatigen Leinwände zu gewinnen. Seine Staffelei besteht aus zwei Latten und einem Klapptisch, die sich leicht auf- und abbauen lassen. Die Bilder stapeln sich an den Wänden, jede Möglichkeit zum Abstellen wird genutzt. Sogar ein Extra-Raum im Keller des Wohnprojekts ist bereits randvoll. Das ist nicht selbstverständlich, denn in Wohnheimen gelten meist strenge Vorschriften, die sie zwar sicherer machen, aber nicht unbedingt lebenswerter. Doch bei Pro Seniore kann Stefan Stockfleth sich entfalten, auch wenn es ein bisschen eng wird. Er wohnt hier seit knapp zehn Jahren und hat endlich das Gefühl, einmal angekommen zu sein – „aber nicht, um zu bleiben, stehenzubleiben, sondern um stabiler weiterzugehen”, beschreibt er. Es geht ihm Schritt für Schritt besser, sein Zustand stabilisiert sich und seine Medikamente konnten um die Hälfte reduziert werden.
Galerie für Außenseiter
Große Dankbarkeit dafür empfindet auch Alexandra von Gersdorff-Bultmann. In ihrer Galerie Art Cru im Kunsthof in der Oranienburger Straße waren im letzten Sommer Werke von Stefan Stockfleth zu sehen. Sie begleitet „ihre” Künstler über die Ausstellungen hinaus und vermittelt Kontakte zu Sammlern, Kunstmessen und Wettbewerben. Die Galeristin hat sich auf sogenannte „Outsider Art” spezialisiert, also auf die Kunst psychisch kranker Menschen. Zur Außenseiterkunst werden zwar auch innerliche, naive und Volkskunst gezählt, aber geprägt durch ihre langjährige Tätigkeit in psychiatrischen Kliniken hat Alexandra von Gersdorff-Bultmann sich ganz der Förderung von kunstschaffenden Patienten verschrieben. Gemeinsam mit Werkstätten, Vereinen und Unternehmen gründete sie außerdem den Verein PS Art e.V. Daraus sind in diesem Jahr fünf Künstler für den „Euward 6” nominiert, den einzigen europäischen Kunstwettbewerb für Outsider.
Und durch das Netzwerk der Outsider Art ist auch Stefan Stockfleths nächste größere Ausstellung zustande gekommen: Vom 3. Juli bis zum 6. September ist eine Auswahl seiner ausdrucksstarken Bilder im Stadtmuseum Schleswig zu sehen.