Am 15. Januar 1990 stürmten aufgebrachte DDR-Bürger die Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße in Ost-Berlin – das ist jetzt 24 Jahre her. Heute fordert der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, eine Auflösung der Behörde für Stasi-Unterlagen. Die Aufgaben beim Aktenzugang, der politischen Bildung und der Forschung müssten zwar fortgeführt werden, sagte er. „Diese Aufgaben verlangen aber nicht zwingend eine zentrale staatliche Behörde“, ergänzte er. Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, sieht das anders. Im Interview mit der Berliner Morgenpost erklärt er, warum die Arbeit der Behörde auch heute noch wichtig ist.
Berliner Morgenpost: Herr Jahn, am 9. November jährt sich zum 25. Mal der Jahrestag des Mauerfalls. Was fällt Ihnen dazu spontan ein?
Roland Jahn: Dass die Bürger der DDR es mit ihrer Friedlichen Revolution geschafft haben, ein Unrechtssystem zu stürzen, das viel Leid über die Menschen gebracht hat. Aber es wurde überwunden, das ist es, worauf es ankommt.
Wäre die DDR nicht auch ohne die Friedliche Revolution wenig später zusammengekracht? Weil das ganze System inklusive ihrer Führungskader an sich selbst erschöpft war? Den Eindruck gewann ich, als ich im Frühjahr 1989 in den Ost-Teil Berlins reiste. Junge Grenzsoldaten aus Sachsen, die immer harsch kontrolliert hatten, zeigten sich plötzlich ungewohnt lax.
Das mit dem „An sich selbst erschöpft sein“ ist ein schönes Bild. Aber ohne das Aufbegehren der Bürger hätte es 1989/90 nicht die Friedliche Revolution gegeben. Ohne die junge Generation wäre dies nicht möglich gewesen, denn sie hatte die Angst vor der Staatsmacht verloren. Das war keine Selbstverständlichkeit. Denn sie war von den Erzählungen ihrer Eltern geprägt, die sagten: „Nehmt euch in Acht, sonst kommen die sowjetischen Panzer. Aufbegehren hat sowieso keinen Sinn.“ Diese neue Generation hat die Kraft aufgebracht, aufzustehen und zu widersprechen. Und deutlich gemacht: Wenn ich in dieser DDR bleibe, nicht weggehe, nicht ausreise oder flüchte, dann muss sich hier was ändern. Sie sind mutig den Mächtigen entgegengetreten. Sie haben die Demonstrationen aus den Kirchen auf die Straßen getragen, und das war der Durchbruch. Ich erinnere mich an die Fernsehbilder der jungen Mädchen an der Schönhauser Allee. Die vor den Wasserwerfern der Polizei saßen, mit Kerzen in der Hand, das hat mich stark beeindruckt. Und bei diesen Bildern wusste ich, diese Diktatur ist am Ende.
Kürzlich brachte der RBB einen Beitrag mit Bildern der Zionskirche, der dortigen Umweltbibliothek, die aus Sicht der Stasi ein Nest der Gegner war. Wie gehen Sie heute an solchen Orten vorüber?
Für mich sind diese authentischen Orte sehr wichtig, gerade die Orte der Friedlichen Revolution haben eine emotionale Kraft. Es gibt ja das Stelen-Projekt der Robert-Havemann-Gesellschaft, das an verschiedenen Orten Berlins aufgestellt ist, am Kollwitzplatz, an der Gethsemanekirche. Man kann sich dann am Ort über damals informieren. Mich bewegt das immer noch.
In wenigen Jahren werden wir den verrückten Zustand haben, dass der Fall der Mauer genauso lange her ist, wie diese überhaupt gestanden hat. Mindert der Faktor Zeit nicht die Erinnerung? Übertreiben wir es mit der Erinnerungskultur nicht ein wenig?
Ich glaube nicht, dass wir es übertreiben. Der mündige Bürger kann sich ja entscheiden, ob er diese Informationen nutzt. Ich sehe nicht, dass die Stadt überspült wird von Informationen. Wichtig ist, dass wir die übrig gebliebenen Reste der Geschichte nutzen, um zu informieren, auch ausländische Besucher. Das haben wir ja zum Beispiel beim Streit um die East Side Gallery gesehen. Viele Menschen wollen die Orte erhalten, die bezeugen, was Diktatur war und was es bedeutete, diese zu überwinden.
Wie stellt sich die Aufarbeitung der Stasi-Machenschaften 25 Jahre nach dem Mauerfall in den Statistiken Ihrer Behörde dar?
Es wurden in den 23 Jahren der Behörde mehr als sechseinhalb Millionen Anträge zum Einsehen der Akten gestellt. Natürlich gehen die Zahlen jetzt auch zurück. Die Zahl derer, die noch nicht in ihre Akten geschaut haben, nimmt beständig ab. Aber Journalisten und Forscher stellen immer noch kräftig Anträge. Dabei geht es auch um die Erforschung der Fälle von Arbeit für Westfirmen in DDR-Gefängnissen. Oder Medikamententests in DDR-Krankenhäusern. Auch darüber steht einiges in den Stasi-Akten, und wir können hier bei der Aufarbeitung helfen. Und dann gibt es noch jene Bürger, die in ihren Akten Dinge zu ihrer Rehabilitierung finden, was auch bei der Berechnung von Opferrenten wichtig sein kann.
Es wird ja immer noch neues Material zutage gefördert. Ist für Bürger, die bereits Anfang der 90er-Jahre ihre Akte eingesehen haben, eine neue Einsicht lohnenswert?
Ein Drittel der Anträge sind Wiederholungsanträge, also von Bürgern, die zuvor bereits einen Antrag gestellt haben. Das kann sich lohnen. Man muss dazu wissen: Nur die Hälfte der 111 Kilometer gefundener Akten ist von der Stasi archiviert worden. Die anderen rund 50 Akten-Kilometer lagen damals ungeordnet in Dienstzimmern, Schränken, auf Schreibtischen. Vieles von dem war von der Stasi zur Vernichtung vorgesehen. Das haben mutige Bürger im Winter 1990 ja gestoppt, als sie etwa am 15. Januar die Berliner Stasi-Zentrale besetzten.
In Ihrer Behörde arbeiten noch rund 40 ehemalige Stasi-Mitarbeiter, wie lange noch? Als Sie Ihr Amt gerade angetreten hatten, wollten Sie hier Gas geben.
Ich wollte ein altes Problem lösen, aber dies muss rechtsstaatlich korrekt erfolgen, durch Versetzungen in andere Behörden. Das braucht die Zeit, die Regeln des Rechtsstaats vorgeben.
Sie saßen ja selbst in einem DDR-Gefängnis. Ihre jetzige Arbeit muss eine große Genugtuung darstellen.
Ich kann nicht verleugnen, dass es ein gutes Gefühl ist, dass die Geschichte so auf den Kopf gestellt wurde. Und dass es auch eine Symbolik hat, gerade wenn Besucher aus dem Ausland kommen. Deutschland zeigt, dass Diktatur überwindbar ist und Aufarbeitung von Diktatur möglich ist.
Wann könnte die Aufarbeitung zu einem Ende kommen?
Ich denke, Aufarbeitung, Aufklärung hat kein Ende, auch wenn man die Strukturen dafür der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen muss.
Wo werden Sie im November sein, am 25. Jahrestag des Mauerfalls?
Ich will in Berlin sein und diesen Jahrestag mit Freunden aus Ost und West feiern, denn der 9. November hat unser Leben geprägt.