Wie Cowboys beherrschen sie das gefährliche Straßenpflaster der Innenstadt. Auf schmalen Rennreifen werden elegant Straßenbahnschienen und ruckartig aufgehende Autotüren umfahren, Ampelfarben sind dabei häufig nur Nebensache. Die Branche ist ständig in Bewegung – und passt sich rasant an die stetig wechselnden Bedürfnisse ihrer Kunden an. Fahrer müssen viel Idealismus mitbringen, um den Handel von knapper Bezahlung gegen die Freiheit der Straße einzugehen.
„Unser Betätigungsfeld hat sich massiv gewandelt“, sagt Martin Hollmann von „Spinning Wheelz“. Hollmann ist Mitinhaber des Kurierdienstes mit Sitz an der Torstraße, den er 1996 gründete. Das frühere Hauptgeschäft bestand vor allem in dem Transport von Vordrucken und Dokumenten – heutzutage werden diese zwischen Unternehmen fast vollständig über E-Mail-Verkehr und Cloud-Systeme wie „Drop box“ verschickt.
„Mittlerweile überbringen wir beispielsweise auch medizinische Proben“, erzählt Hollmann. Da werden Gewebeproben während Operationen zur Analyse in ein anderes Krankenhaus gebracht oder wichtige Medikamente transportiert. Doch auch Originaldokumente spielen noch eine Rolle. „Gerade bei Anwälten müssen schnell Dokumente beim Gericht eingereicht werden – da reicht keine Kopie, die via E-Mail verschickt wird“, sagt Hollmann. Das Wichtigste im Kuriergeschäft sei Verlässlichkeit – der Preis spielt oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Das Gut muss sicher und pünktlich am Zielort ankommen. Nur wenige Privatpersonen nutzen Fahrradkuriere, fast alle Aufträge kommen von Unternehmen und gehen auch wieder an Unternehmen.
Täglich bis zu 140 Kilometer
Während der Zeit des Postmonopols war festgelegt, dass ein einfacher Kurierdienst mindestens das Zehnfache einer Postsendung kosten muss. Daran orientiert sich die Branche auch heute noch – eine Sendung beginnt ab 5,50 Euro exklusive Mehrwertsteuer. „Unsere Fahrer fahren im Schnitt täglich 100 bis 140 Kilometer. Am Tag gehen etwa 100 Aufträge bei uns ein – diese können auch mehrere Sendungen enthalten“, sagt Hollmann.
Kurierdienste funktionieren als Vermittlungssystem. Die Fahrer arbeiten als Selbstständige und erhalten vom Unternehmen die Aufträge. Im Gegenzug müssen sie 28 bis 37 Prozent ihrer Einnahmen abgeben. „Ein guter Fahrer, der Vollzeit auf der Straße ist, verdient um die 2000 Euro vor Steuern. Jemand, der gerade neu ist, liegt knapp über Hartz-IV-Niveau“, sagt Hollmann. Sein Fahrrad muss jeder selbst mitbringen, Shirt und Rucksack würden gestellt. Trotzdem würden sich täglich zwei bis drei Bewerber bei ihm melden. Je nach Lage und Fluktuation stellt er ein bis zwei neue Fahrer im Monat ein. „Wir haben viele Aussteiger, die sich ihre Zeit freier einteilen wollen und die Bewegung an frischer Luft zu schätzen wissen. Zum Beispiel haben wir einen ehemaligen Goldman-Sachs-Banker, der auf den ganzen Zirkus keine Lust mehr hatte“, erzählt Hollmann.
Ohne Helm unterwegs
Ein guter Fahrer müsse sich natürlich gut in der Stadt auskennen, vor allem aber auch schnell auf unerwartete Situationen reagieren können. „Wer Medikamente liefert, kann diese natürlich nicht dem die Tür öffnenden Kind in die Hand drücken – da muss man auch im Kopf fit sein“, sagt Hollmann. Ungefährlich ist der Parcours durch die Innenstadt nicht. Die Fahrer müssen stets hellwach und konzentriert sein, um Unfälle zu vermeiden.
Einen Helm tragen nur wenige. Martin Hollmann hatte selbst einmal einen schweren Unfall mit einem Auto und einer Tram – jemand hatte unvorsichtig die Tür des Autos geöffnet. Fast hätte Hollmann dabei seinen rechten Arm verloren. Das hat ihn nicht davon abgehalten, wieder aufs Rad zu steigen. Ihm sei es jedoch wichtig, dass seine Fahrer sich nicht selbst gefährden, sagt er. Klar ignoriere man mal die eine oder andere rote Ampel, aber grundsätzlich müsse man sehr umsichtig fahren.
Auch neue Technik spielt in der Branche eine Rolle. Im Moment wartet Hollmann auf eine Bestellung Elektroräder. Von dessen Nutzen ist er jedoch noch nicht ganz überzeugt. „Wenn man keinen regenerativen Strom benutzt, ist die CO2-Bilanz nicht unbedingt super“, sagt Hollmann. Anders sieht es der große Kurierdienst „Messenger“. Bereits seit drei Jahren setzt er vermehrt auf eine elektrische Flotte. Bis zu 20 „e-bullets“ hat der Kurierdienst auf den Berliner Straßen. Diese elektrisch betriebenen Lastenräder haben vorne einen Korb, mit dem Pakete in Größe eines Umzugskartons transportiert werden können.
Geschäft hat sich gewandelt
Obwohl man in Zeiten der Digitalisierung einen Rückgang der Aufträge in der Kurierbranche vermuten könnte, zeichnet sich in Gesprächen mit Kurierdiensten ein anderes Bild. „Unser Geschäft hat sich zwar stark gewandelt seit seinem Beginn in den 90er-Jahren, schlechter geworden ist es aber nicht“, sagt Hollmann von „Spinning Wheelz“. Auch „Messenger“ setzt weiterhin auf Radkuriere – einen Rückgang der Aufträge können sie ebenfalls nicht bestätigen. „Im Gegenteil: In letzter Zeit verzeichnen wir sogar ein leichtes Wachstum. Man muss sich einfach nur an die Veränderungen in der Branche anpassen“, sagt Michael Eicker von „Messenger“. Diese Aussagen decken sich mit der Einschätzung des Bundesverbandes der Kurier-Express-Post-Dienste (BdKEP). Laut einer aktuellen Studie des Verbandes hat sich ein grundlegender Strukturwandel in der Kurierbranche vollzogen. Nur noch ein geringerer Umsatz wird im klassischen Stadtkuriergeschäft gemacht. Die Bedeutung von Direktfahrten – national und international – habe stark zugenommen. Insgesamt kann das Kuriergeschäft im Langzeitvergleich von 1999 zu 2012 ein Wachstum von 4,6 Prozent ausweisen.
Als Martin Hollmann von „Spinning Wheelz“ in voller Radfahrer-Montur vor seinem Geschäft steht, kommt eine junge Frau aus dem Haus. Sie ist von Hollmanns Arbeit begeistert. Als sie hochschwanger im Krankenhaus lag, kam er und lieferte ihr den heiß ersehnten NY-Cheesecake aus dem Lieblingscafé in Prenzlauer Berg ans Bett.