Schneidermeister

Volkmar Arnulf ist Berlins Mann fürs richtige Maß

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Philip Cassier

Foto: Martin U. K. Lengemann

Helmut Kohl trug 1990 Volkmar Arnulf. Mehr ist über Kunden des Berliner Obermeisters der Schneider nicht bekannt. Er ist einer der besten seiner Zunft – und gab Philip Cassier Nachhilfe in Diplomatie.

Zuerst ist da eine Silhouette hinter einer Glastür, oder nicht einmal eine Silhouette, sondern nur ein Kopf mit weißem Haupthaar und einer Schulterpartie. Das allein wäre nichts Besonderes, wenn die Schultern nicht mit jedem Schritt vollkommener würden, den man auf Volkmar Arnulfs Schneiderei in der Potsdamer Gutenbergstraße zugeht. Die Partie wird von einem dezent karierten blauen zweireihigen Blazer ausgeformt – und zwar auf eine Weise, wie die Natur sie nicht vorgesehen hat: absolut symmetrisch, eine perfekte Kontur. Auch das Sakko umschmeichelt die Taille, jede Bewegung hat dadurch etwas Flüssiges. Arnulf trägt dazu eine cremefarbene Hose und hellbraune Schnürschuhe. Ein angenehmer Händedruck. Ein vorsichtiges Lächeln. Eine leise Stimme und wache Augen, die gar nicht anders können, als ganz beiläufig Maß zu nehmen. Eine Begrüßung, wie sie aufmerksamer nicht sein könnte, so stellt sich der Schneidermeister Volkmar Arnulf seinem Besucher vor.

Als wir ihn zum Spaziergang einluden, hatte er Zweifel. Andere in seinem Beruf hätten sofort zugesagt, des Werbeeffekts wegen. Doch der Berliner Obermeister der Schneider, etlichen Rankings zufolge seit Jahrzehnten der beste Deutschlands, fragte leise am Telefon: „Ja, glauben Sie denn, dass es für so ein Format nicht Wichtigere als mich gibt?“ Volkmar Arnulf dachte einen Tag lang nach und kam mit einem präzisen Plan zurück: Abholen am Atelier, damit man einen Blick hinein werfen kann. Tour zur Glienicker Brücke, Spaziergang durch den Schlosspark am Wasser entlang, da könne er am besten erklären, was ihn so sehr mit Berlin verbinde. Und wenn dann noch Fragen blieben, könnten wir zurück ins Atelier, da zeige er uns alles, was seinen Beruf betreffe. Arnulf hätte auch sagen können: Ich nehme mir für Sie so viel Zeit, wie Sie wünschen.

100 Stunden für einen Anzug

Zeit, das wird beim Gesprächsauftakt in Arnulfs BMW Z3 – „Ist 15 Jahre alt“ – schnell klar, ist eine Schlüsselkategorie seines Lebens. Schnell geht nichts, denn schnell geht auf Kosten der Qualität. Auch der Kunde braucht Zeit, wenn er sich Arnulf anvertraut: Die Diskussion des Stoffs für seinen Anzug, das Messen, erste Anprobe, zweite Anprobe, dritte Anprobe, auf einen Arnulf-Anzug wartet man im Schnitt zwei Monate. Innerhalb derer arbeitet Arnulf mit seinem fünfköpfigen Team mindestens 60 Stunden an dem Stück: „Man kann auch mühelos auf 100 Stunden kommen“, sagt Arnulf in den Potsdamer Verkehr hinein. Es ist brüllheiß an diesem Dienstag, aber ihn scheint das nicht zu kümmern.

Ein Anzug entsteht bei ihm auf vollkommen traditionelle Art: Nach dem Messen schneidet der Meister ein Muster des Kunden in Pappe. Die so gewonnenen Schablonen für Ärmel, Schulter & Co. legt er dann auf den Stoff und zeichnet mit Schneiderkreide die entsprechenden Teile auf. Da ist Mathematik im Spiel und Vorstellungskraft gefordert, wie der Stoff am Ende am Körper fällt. Der Meister selbst schneidet mit der Hand zu. Auch danach hat Arnulf persönlich überall seine „Finger mit drin“, wie er es ausdrückt.

Alles wird von Hand gemacht

Die Stoffteile nähen seine Angestellten per Hand zusammen: Tausende Stiche für das Innenleben aus Wollhaareinlagen an Schulter und Revers, die dem Anzug seine Form geben – in Konfektionsware dagegen werden sie eingeklebt –, dann wird der Anzug für die erste Anprobe zusammengeheftet. Damit Arnulf ihn auseinandernehmen, ändern und wieder zusammennähen kann. Maschinen benutzen sie kaum: „Eine Handnaht ist einfach elastischer.“ Zweite Anprobe, dann die letzten Arbeiten und Korrekturen: Knopflöcher mit der Hand ausnähen, eine detailversessene Suche nach Fehlern. Ein letzter Blick mit dem Kunden in den Spiegel. Und die Bitte, Bescheid zu geben, wie sich das Stück nach wochenlangem Eintragen verhält. Trotz all dieses Aufwandes sagt Volkmar Arnulf: „Ich lerne jeden Tag dazu.“

An der Glienicker Brücke angekommen, spazieren wir links zum Schloss, dort wartet der Fotograf. Volkmar Arnulf kann nicht anders: Er hält zwischen herrlichen alten Bäumen auf sattgrünem Rasen einen kurzen Spontanvortrag über die Geschichte dieses Geländes. Wie Schinkel und Leneé das Areal um 1820 nach Wünschen von Prinz Karl in eine Kulturlandschaft verwandelten, mit genau proportionierten Säulen, Türmen und Sichtachsen. Dem Fotografen Martin Lengemann stellt Arnulf die Frage, ob er als relativ kleiner Mensch nicht am besten von unten aufgenommen werden sollte, damit sein Körper auf dem Foto in Proportion bleibt. Volkmar Arnulf ist ein Mann, der allem auf den Grund geht, der Zusammenhänge erkennen will; sei es beruflich – unzählige Auszeichnungen und Goldmedaillen erzählen davon – oder als Autodidakt.

Mit 75 noch einmal neu angefangen

Und der mit 75 Jahren in seiner Heimat noch einmal neu anfing. Der Name Volkmar Arnulf war von 1967 bis 2012 untrennbar mit dem Kurfürstendamm verbunden. Dort hatte er sein Atelier. Doch Berlins City West erfindet sich gerade neu: 9000 Euro Miete monatlich zahlte Arnulf am Ende für Werkstatt und Verkaufsräume, schon das war zu viel. Die Immobilie wurde verkauft – und als er mit den neuen Eigentümern, einer britischen Fondsgesellschaft, über den Preis verhandeln wollte, beschied man ihm kühl, die Miete werde künftig verdoppelt. Arnulfs Anzüge haben ihren Preis, 3500 Euro kostet das Einstiegsmodell, aber reich ist der Schneider – er beschäftigt nur festangestelltes Personal – nie geworden. 18.000 Euro Miete wären nichts weniger als der Ruin gewesen. Der Hinweis, für die umliegenden Design-Modeketten seien solche Summen normal, war sicher kein Trost.

Wenn Volkmar Arnulf in der hochherrschaftlichen Umgebung in Glienicke davon erzählt, dann mag man das gar nicht glauben, dass Berlin ausgerechnet zu ihm so hart war. Doch der Schneider blickte nach vorn: Er habe gewusst, nicht aufhören zu können, sagt er. Und wer ihn erlebt, mit welcher Energie er hier bei der Sache ist – er legt am Wasser ein beträchtliches Tempo vor – der glaubt sofort, dass ein Rentnerdasein in seinem Bungalow im Stadtteil Wannsee diesen Mann kaputt gemacht hätte. Also überzeugte Volkmar Arnulf seine Frau, die er 1962 heiratete und die seitdem mit ihm im Geschäft tätig ist, dass es sinnvoll sei, in Potsdam eine Werkstatt zu kaufen. Bisher sieht es so aus, als ob es der richtige Schritt gewesen sei. Seine Berliner Kunden seien ihm jedenfalls treu geblieben, sagt Arnulf, in Potsdam habe er sogar einige dazugewonnen.

Diskretion gehört zum Geschäft

Über persönliche Belange seiner Kunden spricht Arnulf nicht. Es gehört zu seinem Geschäftsmodell, dass man bei ihm vor den gezielten Indiskretionen der Modebranche sicher ist. Bekannt ist, dass Helmut Kohl die Einheit in Arnulf-Anzügen aushandelte. Arnulf selbst aber rückt sich nie in die Nähe seines berühmten Kunden – und deswegen sind auch keine persönlichen Details zu erfahren. Man könnte dieses Gespräch als eine Nachhilfestunde in Diplomatie interpretieren; sehr wahrscheinlich agiert Arnulf beim Maßnehmen genau so. Er kann einem Kunden, der Gewicht zugelegt hat, das ja schlecht auf den Kopf zusagen, so eitel ist nun jeder Mensch. Wobei seine Maßkleidung tatsächlich dafür sorgen kann, dass man das ein oder andere Pfund nicht sieht. Genauso, wie er in seine Anzüge immer Stoffreserven einbaut, die er hervorholen kann, wenn die Stücke aus Gewichtsgründen nicht mehr passen.

Dass Arnulf über sein Ende am Kudamm so offen spricht, zeigt, wie sehr ihn diese Zeit angegangen haben muss. Die Geschichte wird noch absurder, wenn man ihm zuhört, warum er den Schlosspark Glienicke als Route für den Spaziergang aussuchte. Fast alles drehte sich in seinem Leben um Berlin: Schon zu Lehrzeiten kam er mit dem Fahrrad aus Bernau, wo seine Mutter lebte, über die Glienicker Brücke. Seine Lehrmeister stammten noch aus der Kaiserzeit, als Berlin rasant zur Mode-Hauptstadt aufstieg und berühmte Häuser wie Knize aus Wien oder Henry Poole aus London hier Filialen hatten. Arnulf erlernte uralte Techniken, die heute keiner mehr beherrscht. 1957 sperrte Berlin ihn ein: Um ein Geschäft führen zu dürfen, brauchte er Papiere, die es ihm bereits vor dem Mauerbau nicht mehr erlaubten, in den Osten einzureisen. An freien Tagen, sagt Arnulf, sei er hier an der Havel gern in der Natur unterwegs gewesen, später auch viel mit seinem Sohn.

Ein Jahr nach dem Mauerbau eröffnete Arnulf am Kudamm. Andere wären gegangen. Es folgte 68, eine gesellschaftliche Revolution, die sich gegen alle Werte richtete, die sein Handwerk bestimmen: Tradition, auch strenge Hierarchie nach Können. Dann das Aufkommen der Konfektion, die das Leben der Schneider immer schwieriger machte. 700 Schneider gab es 1960 allein ist West-Berlin, heute sind von seinem Kaliber, wenn überhaupt, noch 20 in ganz Deutschland übrig. Volkmar Arnulf hat das alles hingenommen, er durfte auch die Einheit erleben, aber am Ende machte Berlin ihm das Bleiben unmöglich.

Und was kommt als nächstes?

Doch wir wollen nun lieber über das reden, was Volkmar Arnulf noch vorhat. Dafür fahren wir zurück ins Atelier; es ist wirklich unfassbar heiß, was allerdings keinerlei Auswirkungen auf den Sitz von Arnulfs Jackett hat. Im sehr gediegenen Ambiente in der Gutenbergstraße – viel dunkles Holz, auf dem Regal stehen antike Bügeleisen in Reih und Glied, auf Puppen hängen Jacketts in verschiedenen Fertigungsstufen – dreht sich das Gespräch vor allem um den Nachwuchs. Als Obermeister ist er dafür verantwortlich. Dem Hype um die Modestadt Berlin steht er skeptisch gegenüber. Elf Jahre lang war er Gastdozent an der UdK, er lehrte die Schnittsysteme der vergangenen 300 Jahre. Die Studenten, sagt er, seien alle sehr begeisterungsfähig für Designs gewesen, nur wenn es ans Handwerk gegangen sei, an die echte Schneiderei, habe es recht dünn ausgesehen.

Wahrscheinlich, denkt der Besucher, träumt der Nachwuchs eher von einer Lagerfeld- als von einer Arnulf-Karriere.

Auf die Motorik kommt es an

Wer das Handwerk ernst nimmt, auf den warten viele harte Prüfungen. Zuallererst muss ein Bewerber bei Volkmar Arnulf die Hände auf den Tisch legen. Er will wissen, ob die Finger gut voneinander unabhängig funktionieren. Das ist wichtig, wenn man die Nadel für den richtigen Stich korrekt halten will. Dann die Sitzhaltung, die Koordination: Viel, sehr viel ist da zu beachten, so viel, dass es eine enorme Geduld erfordern muss, ein auch nur annähernd guter Schneider zu werden. „Man darf auch nichts mehr simpel anordnen“, sagt Arnulf, das sei ganz anders als zu seiner Zeit. Dabei werde die Schneiderei immer komplexer, die neuen leichten Stoffe seien viel schwieriger zu handhaben als die traditionellen schweren. Arnulf wünscht sich deswegen, dass wie früher nur Meister ausbilden dürfen, das werde inzwischen viel zu beliebig gehandhabt. Und wer gar ein eigenes Geschäft führe, müsse ja auch über das Kaufmännische Bescheid wissen und genau erkennen, welchen Stil die Kunden bevorzugen. Maßschneiderei ist Kleidung von einem Individuum für ein Individuum, die Mitsprache des Kunden ist essenziell für den wirtschaftlichen Erfolg.

Der Lohn? Einige Dinge, sagt Volkmar Arnulf, blieben immer gleich. So wirke selbst ein Mensch voller Können und Esprit in einem schlechten Anzug nicht überzeugend. Seinen Kunden in dieser Hinsicht zu helfen, das sei seine größte Freude. Arnulf führt noch durch die Werkstatt, auch das geschieht gründlich, mit Auskünften über Molekularstrukturen von Geweben, Bügeltechniken und vielerlei mehr, es folgt eine leise, formvollendete Verabschiedung.

Beim Verlassen des Ateliers erkennt der Besucher, dass neben dem Arnulf-Schriftzug ein R für „Registered trademark“ steht. Und denkt: Gut, dass dieser Mann seinen Namen hat schützen lassen. Denn es ist beruhigend zu wissen, dass es noch Menschen in der Nähe gibt, deren Leben auf so etwas Traditionellem wie ihren Händen, einer Nadel und einem Faden aufbaut.