Selbst die Stadtteilbibliotheken sind in Berlin auf ihre Art szenig, ja sogar Underground. Das liegt daran, dass sie so gut versteckt sind. Ein Klub gilt nur dann als richtig cool, wenn man gar nicht so genau weiß, wo er eigentlich ist. Durch drei Hinterhöfe hindurch, in einen Keller, auf der anderen Seite raus – und dann stehen da eigentlich nur zwei Boxen und drei Kisten Bier, aber das ist das große Ding.
Ein bisschen muss das den Besuchern der Helene-Nathan-Bibliothek in Neukölln auch so gehen. Zunächst müssen die nämlich in den Fahrstuhl bei der Post in den Neukölln-Arcaden steigen und auf den Knopf neben „Parkdeck 4“ drücken. Oben angekommen ist aber eben ein Parkdeck und keine Bibliothek. Es ist ziemlich einsam dort oben. Wir hören so einen Neukölln-Sound. Martinshörner, Hupen von unten, aus einiger Entfernung hinter einem Auto ein Plätschern. Links herum in den Gang hinter der Glasscheibe. Geschafft. Wir sind in der Stadtteilbibliothek Helene Nathan.
Flüsterleise unterhalten sich zwei Bibliothekarinnen in der Musikabteilung. An einem Tisch sitzt ein Kollege. Ein Rentner blättert im „Spiegel“. In Neukölln kann man 113 Zeitschriften, sieben Tageszeitungen und sogar die „Hürriyet“ lesen. Aber trotz dieses tollen Angebots, das ja kostenlos ist – denn zum Lesen hier im sechsten Stock über der Karl-Marx-Straße braucht man gar keinen Ausweis – ist es sehr ruhig an diesem Morgen. Ein Pärchen steht in der Notenabteilung und unterhält sich gerade über die Surf-Gitarre von Dick Dale.
Eine Bibliothek im Geheimversteck
Es wäre ja schon interessant zu wissen, wie viele Besucher zum Beispiel gar nicht hier oben ankommen, weil sie die Bibliothek nicht finden. Der Bibliothekar am Tisch meint, dass er gar nicht mit einem sprechen dürfe, also ohne das vorher mit der Bibliotheksleitung zu klären. Er tut es dann aber doch. „Das ist wirklich ein Problem. Aber eine Hinweistafel kostet sehr viel Geld. Geld, das der Bezirk nicht ausgibt. Also sagen Sie bitte weiter, wo wir sind.“
Und darauf angesprochen, ob es immer so leer ist, erwidert er: „Nein, nein.“ Eine lange Pause entsteht, seine Augen werden größer, und man erwartet, dass der Bibliothekar jetzt ein unerhörtes Geheimnis teilt, die Pause jedenfalls ist wirklich lang. „Es sind Schulferien. Während der Schulzeit finden sie hier keinen leeren Stuhl. Wenn es richtig voll ist, machen wir hier 2000 Leute am Tag.“
Vor allen Dingen junge Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund kämen. Das läge daran, dass die Mädchen nicht zu den Jungs gehen dürften. Also träfen sie sich eben hier. „Das ist irre, aber die Realität“, sagt der Bibliothekar. Vor zwölf kommen die Kitas, die berühmten Stadtteilmütter natürlich auch. Es gibt Sprachkurse, Hausaufgabenbetreuung. Alles kostenlos. Das ist aber in den meisten Bibliotheken in Berlin so.
Zentralen der Kommunikation
Auch wenn man das nicht so oft denkt, man sollte der Stadt Berlin und seinen Bibliotheken mal ein ganz großes Dankeschön sagen. Lächerliche zehn Euro kostet so ein Bibliotheksausweis. Fünf Euro ermäßigt. Dafür können die Inhaber in über siebzig Bibliotheken Romane, Kinderbücher, Lyrikbände, Noten, Bildbände, und was es sonst noch alles gibt ausleihen. Einfach so, ohne mehr bezahlen zu müssen. 28 Tage lang. Filme, Computerspiele, Musik-CDs, Zeitschriften 14 Tage lang.
Einzig die Top-Titelauswahl kostet etwas. Die jeweiligen Bibliotheken kaufen eigens dafür aktuelle Bestseller ein. Die kann man 14 Tage für zwei Euro ausleihen. In der Stadtteilbibliothek Lichtenberg ist das beispielsweise gerade Margot Käßmann mit „Mehr als Ja und Amen: doch, wir können die Welt verbessern“ oder die DVDs der sensationellen NDR-Serie „Der Tatortreiniger“. Kostenloses Internet per WLAN gibt es auch noch obendrauf.
„Ich will diese Bücherei verklagen!“
An den Tisch des Bibliothekars tritt jetzt ein Mann mit einem „American Eagle“-T-Shirt, seine Jeansshorts sind fransig abgeschnitten, weißes Haar, die Brillenbügel mit Tesa geklebt. Eigentlich sieht er nicht böse aus. Eher so wie ein lieber, alternativer Typ um die fünfzig.
Mann: „Ich will die Bücherei verklagen. Welches ist das zuständige Gericht?“
Bibliothekar: „Diese Frage kann ich ihnen leider nicht beantworten.“
Mann: „Sie sind doch Bibliothekar. Sie müssen das wissen.“
Bibliothekar: „Ich kann Ihnen die Rechtsabteilung oben zeigen, da können sie vielleicht nachschlagen, wo sie uns verklagen können.“
Mann: „Dann geben Sie mir die Rechtsabteilung.“
Bibliothekar: „Eine Etage weiter oben.“
Während der amerikanische Adler also auf weißen Schwingen nach oben fliegt, erklärt der Bibliothekar, dass manche Leute an einigen Tagen vom Arzt einfach nicht so gut eingestellt seien und dass ja jetzt auch noch die Hitze dazukäme. „Seit Neuestem haben wir einen Polizeiknopf. Ohne Ansprache verbindet uns der mit der Polizei. Die kommen dann.“ Aber dann kommt auch schon unser Freund, der so dringend Rechtsbeistand sucht, wieder. Seine entspannten Falten ziehen sich zusammen.
Mann: „Der Kollege meinte, da oben gibt’s gar keine Rechtsstelle. Was soll das denn?“
Bibliothekar: „Keine Rechtsstelle. Eine Rechtsabteilung mit Büchern.“
Mann: „Das sind doch Vollidioten hier.“
Bibliothekar: „Bitte gehen Sie raus.“
Mann: „Das hab ich mir gedacht. Wenn sie nicht mehr weiter wissen, schicken Sie einen raus, Sie Penner. Ein Stück Scheiße sind Sie.“
Die Krallen des Neuköllner Raubvogels sind noch ausgefahren, als er in Richtung Aufzug davonfliegt. Der Bibliothekar muss Luft holen. „Jetzt haben Sie schon mal einen Eindruck bekommen, ohne dass ich Ihnen was erzählen musste. Dafür gibt es keine Zulage.“
Sorgsam erlesene Designerstücke
In der Brunnenstraße ist alles viel ruhiger und eine Spur feiner als in Neukölln. Die Bezirkszentralbibliothek Phillipp Schaeffer sieht von innen aus wie ein Loft von einem Künstler, der sich jetzt eine Bibliothek eingerichtet hat. An den Wänden oben auf der Galerie kühlt der graue Beton die dort Sitzenden. Die Kleidung der Besucher gleicht der unseres Neuköllner Adlers, kurze Shorts, Tier-Motiv-Shirts.
Aber anders als bei Helene Nathan sind die Textilien bei Philipp Schaeffer sorgsam komponierte Designerstücke und keine Zeitzeugen. Viel Englisch wird gesprochen. „I’m looking for ‚Infinite Jest’ by David Foster Wallace“, trifft auf das ins Telefon gesprochene „Berlin during Fashion Week is so pretentious“ (Berlin ist so anstrengend während der Fashion Week).
Die Bibliotheken sind feine Gradmesser der Gesellschaft. In ihnen lässt sich der Zustand der einzelnen Bezirke ablesen, die Gemütslage und Wünsche derer, die dort wohnen. Die verspielte Bodenständigkeit der Steglitzer, die sich am liebsten „Findus und der Hahn im Korb“ ausleihen. Der Wissensdurst der Reinickendorfer, die Windows 7 verstehen wollen. Das Verlangen der Marzahner, die Geschichte unserer Stadt zu verstehen, die einmal teilweise in einem anderen Land lag, die wissen wollen, wie der Mensch Honecker tickte.
In Pankow haben sie freilich Zeit für Spinnereien und schmunzeln zu Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“. Und die aus Friedrichshain und Kreuzberg fahren gerne nach Italien und lesen einen Sprachführer mit Reiseknigge und Praxistipps.
Zärtliche Gedichte auf die Bezirke
Sag mir, was du liest und ich sag dir, wer du bist. Die Ausleihrenner sind Kleinode, fast zärtliche Gedichte auf jeden einzelnen Stadtteil, der Berlin formt. Wenn die Neuköllner beispielsweise „Der Elfenpakt“ so gerne lesen, dann sagt das viel über das Bedürfnis nach Fantasie, nach einer Traumwelt aus. Viele dort sind Künstler, oder glauben es zu sein, und formen sich ihre eigene Welt und leben ihren Traum, der natürlich hier und da ein wenig ausgeschmückt wird.
Und doch sind sie geerdet in Neukölln und wissen um die kleinen Schläge, die einen bald bretthart zu Boden werfen. Sie wissen, wie plötzlich einen Alzheimer treffen kann. Aber auch, dass im Angesicht der Krankheit, des Todes etwas berührend Schönes entspringt. Martin Suters „Small World“ hat es ihnen erzählt.
Auch die Bezirkszentralbibliothek Eva Maria Buch von Tempelhof-Schöneberg ist gut versteckt. Die Götzstraße entlanggehend sieht keiner auch nur ein Schild oder einen Hinweis. Das Stadtbad, die Polizei, die sind sofort zu erkennen. Die Bibliothek aber liegt genau dazwischen in einer Flucht aus Bäumen.
„Wir sind ausgeblutet. Unsere Bezirke sind unterfinanziert“, sagt die Bibliothekarin, die eigentlich auch nicht sprechen darf, und beklagt sich, dass auch sie häufig nicht gefunden werden. „Aber wir haben einen schönen Garten hier“. Die Tische hat die Bibliothek durch Spenden finanziert. Der Bezirk sorgt gerade einmal für das Nötigste.
Der Nutzer, das unbekannte Wesen
Dabei gehen doch gar nicht so wenige Berliner in die Bibliotheken, dass es sich nicht lohnen würde, da mal ein bisschen was reinzustecken. 13.900 verschiedene Ausleiher waren im vergangenen Jahr in dieser Bibliothek. Wie oft, das kann keiner sagen. Es wird lediglich erfasst, dass jemand da war. In ganz Tempelhof-Schöneberg haben 34.714 Menschen mit einem Berliner Bibliotheksausweis mindestens einmal ein Buch ausgeliehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es nur Menschen aus Tempelhof oder Schöneberg waren.
Wenn sich jemand beispielsweise in Kreuzberg am Kottbusser Tor in der Mittelpunktbibliothek Jörg Fausers „Rohstoff“ ausleihen möchte, es das aber nur in Tempelhof gibt, kann das der Kreuzberger Bibliothekar an seinem Computer einsehen. Der Kunde kann jetzt entscheiden, ob er in die Götzstraße fährt. Viele machen das so. Andere lassen sich die Bücher sogar nach Hause schicken. 3,50 Euro kostet dieser Service inklusive Rückversand in die Bibliothek.
Über die Internetseite voebb24.de können die Bibliotheksbenutzer sogar online Tageszeitungen, Bücher und Zeitschriften ausleihen. Das Wirtschaftsmagazin „Brand eins“, die „Berliner Morgenpost“ oder die Fachzeitschrift „blickpunkt musical“ können so ganz bequem mit dem Laptop im Bett gelesen werden, ohne dass man das Haus verlassen muss.
„Ist das nicht schön hier“, seufzt die Bibliothekarin in Tempelhof. Draußen sitzt ein Gast an einem gespendeten Tisch, raucht eine Zigarette und liest in „Tausend strahlende Sonnen“ von Khaled Hosseini. Vom vierspurigen Lärm des Tempelhofer Damms ist nichts zu hören. Es riecht nach Rasen, in den Kelchen der Blumen summt es. Nur ein sich entfernendes Jaulen eines Polizeiautos erinnert daran, dass wir in Berlin und nicht im Urlaub sind.
„Mein größter Traum wäre ein kleines Café“ – sagt die Bibliothekarin und weiß, dass das wohl schwierig wird. Denn wenn der Bezirk schon an Schildern scheitert, wie soll er sich erst mit Petit Fours und Madeleines anstellen, die er den Proust-Lesern in Schöneberg reichen könnte. „Aber wir haben einen Automaten mit kleinen Snacks. Nur Gutes, wirklich. Darauf haben wir geachtet.“