Gentrifizierung

Kreuzberg ist die Insel der Träumer – und der Touristen

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Früher verirrten sich lediglich Künstler und Kiffer an den Urbanhafen, heute ist der Graefekiez so beliebt wie nie. Uta Keseling weiß warum.

Ein graues Riesengebirge aus Waschbeton verdunkelte den Himmel, als ich vor elf Jahren das erste Mal wieder am Urbanhafen stand. Es war Sommer, und vor mir dümpelte das Wrack eines verrottenden Schiffs im Landwehrkanal. Auf der Wiese davor vergnügte sich eine bunte Menschenmenge in der Sonne. Ich fragte mich, was in Kreuzberg das Wort „Hafen“ konkret bedeutet. Es gab ja gar keinen, auch wenn alle immer davon sprachen.

Erst später verstand ich, dass „Hafen“ im Wortsinn soviel wie „Gefäß“ bedeutet. Oder auch Kochkessel. In den 70er-Jahren hatte man den Urbanhafen zugeschüttet und den hässlichen Neubau des Urban-Krankenhauses darauf errichtet. Später legten auch wieder Schiffe an, bunt bemalte Restaurant- und Theaterschiffe, die nie wieder abfuhren. Die Anwohner machten das Ufer zum Treffpunkt für Sonnenanbeter, Kiffer, Künstler und Hundefreunde. Niemand, der nicht hier wohnte, hätte sich damals für den Urbanhafen interessiert. Schon gar nicht Immobilienspekulanten oder Touristen.

Ferienwohnungen und steigende Mieten

Das Wort Graefekiez hörte ich zu ersten Mal, als ich im vergangenen Sommer eine Mieterhöhung erhielt, die sich durch nichts anderes rechtfertigte als durch die Mieterhöhungen rundum im „Graefekiez“. Der Mieterverein bestätigte mir: Im Gebiet zwischen Urbahnhafen, Körtestraße und Hasenheide seien steigende Mieten an der Tagesordnung. Und ob in unserem Haus nicht auch Ferienwohnungen vermietet würden?

Ich dachte einen Moment über das teure französische Rennrad in unserem Hausflur nach, über die jungen Gesichter im Haus. Ich dachte an die köstlichen, fremdländischen Essensdüfte, die abends aus den Türen drangen. An das allgegenwärtige Schleifen der Rollkoffer. Und daran, dass ich auf der Straße immer öfter in allerhand Sprachen nach dem Weg gefragt werde. All das war mir bis dahin eher als Kompliment an die Stadt erschienen denn als Bedrohung.

Als ich in den 80er-Jahren herkam, galt West-Berlin als verschrobener Rückzugsort für Kulturpessimisten und Bundeswehrflüchtlinge. Wenn man es wagte, nach dem Weg zu fragen, wurde man als „Wessi“ verhöhnt – als Zugezogener aus den Bundesländern. „Kann sein, das mit den Ferienwohnungen“, sagte ich also zu dem Mann vom Mieterverein. Und schaute mir dann meinen Kiez genauer an.

Jugendstil-Eiland der Träumer

Dass ich 2002 hierher zog, war eigentlich Zufall. Ich hatte eine Wohnung nahe der Redaktion gesucht. Am Südstern fährt die U-Bahn, es gab ein paar Italiener und nebenan einen winzigen Edeka, in dem die älteren Kunden anschreiben ließen und der Fleischer Schrippen nach Wunsch belegte. Der Hausflur unseres Gründerzeithauses war schmierig, im Hinterhof langweilten sich übervolle Mülltonnen neben verwilderten Birken. Die Vermieterin gab mir die Dachgeschosswohnung ohne Provision.

Und ich schwieg über meine heimliche Genugtuung, ausgerechnet hier jetzt wohnen zu dürfen. Auf jener Insel, die ich zwar schon seit den 80er-Jahren kannte, als ich nach Berlin gezogen war, die mir jedoch als Wohnort damals unerreichbar erschien. Es war eine Insel des Besseren, ein Jugendstil-Eiland der Träumer, vom Abriss verschont, das sich zwischen den Bausünden der 70er-Jahre rundum verbarg. Wer konnte, renovierte sich hier seine Altbauwohnung selbst, zahlte weiterhin eine winzige Nachkriegsmiete und lebte in den Tag hinein. Wer wegzog, behielt den Vertrag und suchte sich Untermieter. Wohnungen waren deshalb hier schwer zu bekommen und Mieterhöhungen ungewöhnlich.

Leute wie ich, die weder renovieren konnten noch Kontakte hatten, mussten im schäbigen Neukölln unterkommen. 1988 bezog ich an der Flughafenstraße eine ofengeheizte Einzimmerwohnung plus Außenklo und Nachbarn, deren einziges soziales Interesse darin zu bestehen schien, sich gegenseitig umzubringen. Es gab Schlägereien und einen Toten und als die Mauer fiel, wurde das Haus an neue Besitzer verkauft, die die siebenfache Miete verlangten – erfolglos, übrigens.

Tom Tykwer als Filmvorführer

Wenn man im West-Berlin der 80er ausgehen wollte, fuhr man entweder an die Goltzstraße in Schöneberg – oder in den Graefekiez. An der Grimmstraße trafen sich die Protagonisten der Neuen Deutschen Welle zu Milchkaffee, Lachsfrühstück und Gin Tonic im „Rizz“, einer verspiegelten Welt mit Marmortischen und Billard-Raum. Das „Powwow“ gegenüber war für seine Punk-Höllenmusik wie für seine politisch korrekten Neuland-Burger berühmt. Und die Dieffenbachstraße hatte mit ihren Stuckfassaden, schmiedeeisernen Balkonen, Straßencafés und Trödelläden etwas von Paris. Am Rande der Insel eröffneten 1984 die heutigen Kult-Kinos „Sputnik“ am Südstern und „Moviemento“ am Kottbusser Damm – Tom Tykwer war Filmvorführer.

All das vergaß ich, als ich 1998 zunächst nach Pankow zog. Der Westen hatte abgewirtschaftet, im Osten dämmerte rosig die Zukunft Berlins herauf. Dachte ich. Schließlich beschloss ich dennoch die Rückkehr nach Kreuzberg, aus praktischen Motiven. Meine heutige Wohnung liegt nahe der Redaktion, wie gesagt, die Miete war moderat – und die Wochenenden verbringe ich ohnehin meist auf dem Land. Das Wort Gentrifizierung hatte ich bis dahin noch nie gehört. Was danach in unserem Haus und der Nachbarschaft geschah, mag dem Klischee ziemlich entsprechen. Andererseits muss ich einräumen: Manche Veränderung war mir durchaus recht.

Es begann mit dem Edeka-Tante-Emma-Laden nebenan. Nach zwei Erweiterungen heißt er inzwischen „Aktiv-Markt“ und hat von sieben bis 22 Uhr geöffnet. Am vollsten ist es kurz vor Ladenschluss, die Kunden sind jung und sprechen Spanisch und Italienisch. In der Körtestraße schloss unterdessen der letzte Fleischer, die Apotheke zog wegen Mieterhöhung um, der Biobäcker wurde zum Luxus-Biobäcker. Sonnabends geriet ich zunächst in Demonstrationen gegen die Umgestaltung der nahen Marheinekehalle – und nach abgeschlossener Sanierung in die Warteschlangen der dortigen Feinkoststände. Von Protest war plötzlich nicht mehr die Rede.

„Kiez“ statt „Heimat“

Den Biergarten vor unserem Haus mit der uralten Kastanie besuchten wir erstmals, als ein Bayer die Schultheiß-Spelunke zum Restaurant machte. Die vorherigen Wirte hatten im Haus gewohnt, der neue Betreiber hatte sein früheres Geschäft um die Ecke aufgeben müssen, wegen Mieterhöhung. Unser Vorteil. Gentrifizierung?

Inzwischen gibt es neben dem Bayern zwei Shisha-Bars mit türkisch-arabischer Kundschaft, ein szeniges Studentencafé mit Blümchenkissen und Latte Macchiato und neuerdings einen Griechen, in dem tatsächlich griechisch gesprochen wird. Wem das zu billig ist, der kann in der Fichtestraße um die Ecke im Sternerestaurant „Hartmanns“ essen oder französisch im „Le Cochon Bourgeois“ – kein Schicki-Laden, sondern eher das, was man eine „Institution“ nennt.

Ich stamme aus Nordhessen, wo das Wort „Heimat“ damals höchstens auf Plattdeutsch ausgesprochen und von Intellektuellen belächelt wurde. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass „Kiez“ seine Berliner Entsprechung ist – und wie er sich anfühlt. Im Haus einer befreundeten Familie an der Graefestraße zum Beispiel kann man das spüren. Die Eltern haben in den 80ern ihre Altbauwohnung selbst saniert. Nebenan wohnt eine alte Dame, die ihr ganzes, fast 80-jähriges Leben in jenem Haus verbracht hat. Im Laufe der Jahre ist eine Freundschaft gewachsen, wie mit vielen anderen Menschen rundum auch, sagen die Nachbarn. Auch wenn viele inzwischen weggezogen seien, weil die Wohnungen edel saniert und danach zu teuer für sie wurden – oder es ihnen schlicht zu laut wurde.

An der Graefestraße gibt es bis heute die typischen Kreuzberger Läden, bei denen das Geschäftsmodell weniger wichtig erscheint als ihre bloße Existenz. Eine Straße der großen Träume und kleinen Ansprüche. Ein Antiquariat mit einem verrottenden Bücherturm im Vorgarten zum Beispiel, oder die mutmaßlich kleinste Pension Berlins mit zwei Zimmern im Erdgeschoss an der Schönleinstraße. Inhaber Frank Schoppmeier ist Künstler. Er sagt, er habe sich mit seiner bunten Pension einen Traum erfüllt.

Persönliches Klima bleibt

Seine Gäste sprechen meist Englisch – wie immer mehr Besucher im Kiez. In immer mehr Läden wird sogar ausschließlich englisch gesprochen – vom Bookshop bis zum Imbiss. Was daran liegt, dass nicht nur die Kunden, sondern auch die Inhaber gewissermaßen Touristen sind. An der Dieffenbachstraße sind inzwischen selbst die Wirte genervt. Nicht wegen der wachsenden Konkurrenz, wie man glauben könnte. „Im Gegenteil – je mehr Lokale, desto mehr Kunden“, sagt ein junger Pizzawirt. Ihn störe vielmehr, „dass es im Sommer so voll ist, dass man mit dem Kinderwagen nicht mehr durchkommt“. Der Wirt wohnt neben seiner Pizzeria – Kiez eben.

Im Graefekiez wird sich bis heute geduzt und umarmt, man kennt sich. Die Kontaktpflege schließt dabei prominente Kiez-Besucher ein wie den SPD-Politiker Franz Müntefering oder die „Tatort-Kommissare“ Jan-Josef Liefers und Andreas Hoppe. Aber auch Menschen, die auf andere Weise bekannt wurden. Wie Emma, die Zeitungsverkäuferin an der Admiralbrücke am Urbanhafen. Sie ist 72, war Krankenschwester, kam als Spätaussiedlerin nach Deutschland. Als das Ordnungsamt der Dame den Verkauf vom Klappstuhl aus verbot, protestierten die Nachbarn. Emma blieb. Sie sagt, es gehe ihr nicht allein Zeitungsverkaufen. „Ich brauche Menschen um mich herum, sonst werde ich krank.“

Mietsteigerung um 16,4 Prozent

Was es bedeuten kann, wenn einem der eigene Kiez fremd wird, erfährt man im Kontaktladen „Transit“ an der Graefestraße 89. Vor zwei Jahren wurde aus der einstigen Fleischerei eine Kontakt- und Beratungsstelle für junge Menschen mit psychischen Problemen. Träger ist die Ajb, eine gemeinnützige Gesellschaft für Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation.

Immer häufiger, sagt die Diplompädagogin Elke Fasse, sei unter den Laden-Besuchern von Wohnungssorgen die Rede. „Wer keiner Arbeit nachgehen kann und auf Mietbeihilfe vom Jobcenter angewiesen ist, hat es inzwischen besonders schwer, eine Mietsteigerung aufzubringen oder gar eine preiswertere Bleibe zu finden.“ Ein Umzug in einen anderen Bezirk sei gerade für psychisch kranke Menschen besonders belastend. „Sie brauchen eine vertraute Umgebung mit gewachsenen Kontakten.“

Im Graefekiez liegt die durchschnittliche Kaltmiete inzwischen bei 9,26 Euro – berlinweit sind es nur 7,50 Euro. Im oberen Bereich beträgt die Durchschnittsmiete sogar schon 17,43 Euro. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung von 16,4 Prozent. In der Dynamik-Rangliste der Mietsteigerungen für Berlin liegt der Graefekiez damit auf Platz 13. Man mag es Gentrifizierung nennen oder anders – dies sind Zahlen, keine Psychologie.

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