„Spucki“ ist so einer, an den Julia und Evelyn Csabai oft denken müssen, wenn sie den Flughafen Tegel betreten. Jeder, der von ihm hört, wird seine Geschichte nicht so leicht vergessen. Es ist ein bisschen eklig, von ihm zu sprechen, denn die Mitarbeiter im Flughafen haben ihn nicht umsonst „Spucki“ genannt.
Also: „Spucki“ ist ein Mann Mitte dreißig, unauffällig, Bart, etwas ungepflegt. Aber er hat diesen Tick, Dinge in seiner Umgebung sauber zu machen. „Nachdem sich mehrere Menschen an den Check-in-Säulen ihre Bordkarte ausgedruckt haben“, sagt Julia Csabai, „geht ,Spucki' hin, spuckt auf den Bildschirm, auf dem noch die Fingerabdrücke zu sehen sind, und wischt mit der Hand darüber.“ „Spucki“ denkt, er mache etwas sauber, sagt sie, er sei eigentlich ein ganz Netter. Seine Mutter habe ihn vor Anfang der 90er-Jahre das erste Mal hierher gebracht. Da war er 13 Jahre alt. Seitdem sei Tegel so eine Art Zuhause für ihn.
Heimatgefühl im „Nicht-Ort“
Für Julia und Evelyn Csabai ist das nicht schwer zu verstehen, dieses Heimatgefühl für einen Flughafen, der eigentlich ein „Nicht-Ort“ ist, ein Transitbereich, den man nur durchquert auf dem Weg zu einem weit entfernten Ziel. Tegel, auf dem früheren Jagdgebiet des Preußenkönigs gebaut, während der Luftbrücke 1948 zum ersten Mal regelmäßig genutzt, wurde schließlich in den 60er-Jahren zum wichtigsten Flughafen West-Berlins.
Seit 1990 fliegt hier auch die Lufthansa und kurz darauf begannen Julia Csabai und ihre Schwester Evelyn hier zu arbeiten. Zunächst als Studentenjob führten sie sogenannte Fluggastbefragungen durch, sprachen Passagiere an, wie sie mit diesem Ort zufrieden sind und wohin sie fliegen wollen. Heute sind die beiden 38 und 40 Jahre alt und koordinieren diese Arbeit. Mindestens einmal pro Woche sind sie hier und erleben jeden Tag Geschichten.
Wie ein Kokon, der jedes Jahr enger wird
Sie haben in dieser Zeit die großen Veränderungen am Bau mitbekommen, die Steigerung von rund sieben Millionen Fahrgästen pro Jahr auf heute mehr als 18 Millionen – obwohl die Kapazität des Flughafens bei maximal 11,5 Millionen liegt. Tegel, sagen sie, sei wie ein Kokon, der jedes Jahr enger werde. Die Menschen müssen deshalb zusammenrücken, und so bekommen sie noch leichter Geschichten aus ihren Leben mit. Die beiden haben gesehen, wie nach dem 11. September 2001 alle Angst vor dem Terror hatten, wie die Fußballweltmeisterschaft 2006 Menschen einander näherbrachte und wie im vergangenen Frühjahr eine Finnin für Schlagzeilen sorgte, weil sie ein Jahr lang am Flughafen übernachtet hatte.
Jaana J. war eine Ärztin, deren Mann gestorben war. Sie wusste nicht mehr, wohin. „Sie trug am Anfang noch sehr schöne Kleidung“, sagt Evelyn Csabai, „aber irgendwann wurde ihr der Koffer gestohlen und sie verwahrloste.“ Meist saß sie an einem Internet-Terminal, manchmal fragte sie andere nach Geld, aber irgendwann im Sommer war sie nicht mehr da. Es hieß, Jaana J. sei in eine Anstalt in Helsinki eingewiesen worden. Angesprochen haben die Schwestern sie nie. Sie möchten das nicht, Teil ihrer Geschichten werden, sie verleihen lediglich hin und wieder ihr Mobiltelefon, weil es so wenige Telefonzellen in Tegel gibt. Sonst aber halten sie sich heraus und beschreiben lieber von außen, was sie sehen.
So auch bei dem Koreaner, der jeden Morgen zwischen fünf und sieben Uhr mit weißen Handschuhen durch die Gänge läuft. „Ungefähr 20 Runden“, sagt Julia Csabai, „zehn drinnen und zehn draußen.“ Das könne es nur geben, sagt sie, weil die Architektur es möglich mache, dass man in die Abfertigungshalle einfach hineinkomme, ohne abreisen zu wollen. In den meisten modernen Flughäfen gibt es schon längst eine Kontrolle vorher.
Erlebnisse der vergangenen 20 Jahre zusammengetragen
Diesem Lebensraum wollen die beiden Schwestern jetzt auf dem Grund gehen und schreiben ein Buch über den Flughafen. Die Autorinnen Julia und Evelyn Csabai wollen darin Erlebnisse der vergangenen 20 Jahre Tegel zusammentragen. Kapitel für Kapitel soll so eine Liebeserklärung an diesem Nicht-Ort entstehen. Dabei hilft es ihnen doppelt, dass der Flughafen nicht, wie geplant, im vergangenen Jahr schließen musste. Zum einen gibt es ihnen noch mehr Zeit für die Recherche, zum anderen wird das Projekt „BER“ immer unbeliebter und auch die Fluggäste werden ganz melancholisch, wenn sie Tegel betreten. Es ist wie eine angekündigte Nostalgie-Welle, die jeden umfängt, der den Flughafen betritt. Wie eine Umstellung von analog auf digital, von Röhrenbild- auf Flachbildfernseher, von Nokia-Knochen auf Samsung Galaxy. Die „gute alte Zeit“ ist genau: jetzt.
Wer mit den Schwestern redet, bekommt das Gefühl, dass sich diese Seiten von selbst füllen werden: Große Ankunfts-Freude, noch größerer Abschieds-Schmerz werden in ihrem Buch vorkommen. Es wird um Menschen wie „Spucki“ gehen, den rennenden Koreaner und die Finnin, doch auch um Menschen, die bereits nicht mehr leben.
Lufthansa-Chef nennt Obdachlosen „Angel“
Da gab es einmal „Angel“, das war ein Obdachloser, der jeden Tag außen am Flughafengebäude entlangging und die Aschenbecher polierte, nicht mit Spucke, sondern mit einem Lappen. Den Namen „Angel“ hatte er vom Lufthansa-Chef Eckhard Fischer persönlich, weil er ihn für einen stummen Engel hielt. Er ist vor zwei Jahren gestorben. Das Café, das ihm manchmal ein Brot zusteckte, hat auch schon zugemacht – genau wie der einzige Blumenladen im Flughafen.
Der Zusammenhalt unter den rund 6000 Tegelbewohnern soll auch ein Thema sein. „Wir haben gemerkt, auch an uns selbst“, sagt Julia Csabai, „dass es süchtig machen kann, hier zu arbeiten.“ Es ist die Energie, die Fernreisende umgibt, aber auf jeden Fall ist es auch diese Fähigkeit aller, im Notfall etwas zu improvisieren. „Viele Mitarbeiter gehen hier jeden Tag an ihre Grenzen“, sagt Evelyn Csabai, „damit der Normal-Betrieb überhaupt möglich ist.“ Da gibt es eine Mitarbeiterin, die einen Hund mit nach Hause nahm, weil der seinen Anschlussflug verpasst hatte. „Soll er denn über Nacht hierbleiben?“, habe sie gefragt? Da gibt es Gepäckbänder, die ausfallen und deswegen von Muskelkraft ersetzt werden – fast jeden Tag irgendwo im Flughafen.
Sie haben mit einer Mitarbeiterin am Fundbüro-Stand gesprochen, die zunächst von all den Dingen berichtet, die abgegeben werden: iPads, Landkarten, Skier und viele herrenlose Koffer. An einen konnte sie sich noch besonders erinnern, weil er ihr eine Gehirnerschütterung einbrachte. Es war der Tag, als sie einen Koffer aus Norwegen öffnete. Nach vier Wochen wurde im Beisein des Zolls nachgeschaut, was drin war. „Sie beugte sich über den Koffer und als er offen war, kam ein unglaublicher Gestank aus dem Inneren“, sagt Evelyn Csabai. „Jemand hatte frischen norwegischen Lachs transportiert – und der war eben nicht mehr ganz so frisch.“ Die Mitarbeiterin zuckte zurück und stieß mit dem Hinterkopf gegen ein Regal. Die ärztliche Versorgung war sofort zur Stelle und der Koffer wurde samt Inhalt entsorgt.
„Sex spielt in Tegel auch eine große Rolle.“
Die Erfahrungen des medizinischen Notdienstes werden sicherlich ein eigenes Kapitel im Tegel-Buch bekommen – genau wie die Erfahrungen der Polizei. Auch mit den Putz- und Klofrauen von Tegel haben sie sich bereits getroffen. Ihre Geschichten waren schwieriger zu erfragen, weil diese Kolleginnen meist aus konservativen, muslimischen Haushalten kommen. Was sie dann aber nach mehreren Nachfragen erzählt haben, hat die beiden Autorinnen doch noch überrascht. „Sex“, sagt Julia Csabai, „spielt in Tegel auch eine große Rolle.“ Putz- und Klofrauen erfahren meist am schnellsten davon. Sie erzählen von zurückgelassenen Plastik-Dildos auf der Damen-Toilette, von Männern, die verdächtig lange auf der Herrentoilette verschwinden – und von erwischten Pärchen im Wickelraum.
Je länger man den beiden Frauen im Flughafen Tegel zuhört, umso glaubhafter ist ihre Theorie, dass hier in Tegel die Architektur das Näherrücken begünstigt. Nicht nur, weil die Parkplätze so eng sind, dass ein Auto eineinhalb Plätze besetzt, sondern auch, weil sich die bayrische Reisegruppe, der Kölner Karnevalsverein und eine Gruppe vollverschleierter Frauen an diesem Tag nicht aus dem Weg gehen können. Es gibt in Tegel einfach weniger Ausweichmöglichkeiten, keine Rückzugsräume, nichts Privates – und durch ein Fenster kann man die Rangierer bei der Arbeit beobachten. Jeder hat Zutritt zu diesem Ort und deswegen wird hier so viel öffentlich verhandelt, auch die privatesten Gefühle. Eines dieser Erlebnisse erzählen die Csabai-Schwestern abwechselnd, weil es sie bis heute schockiert, wie sehr manche Menschen diese Öffentlichkeit ausblenden können:
Es begann mit einem Schrei bei Gate 9. Ein Mann, der dem US-Schauspieler Woody Allen sehr ähnlich sah, lag im Check-in-Bereich, trommelte mit den Fäusten auf den Steinfußboden und schrie auf Englisch, dass er nicht fliegen wolle: „I don't want to go, Ursula!“ Eine sehr große Frau, offenbar Ursula, wechselte zwischen Deutsch und Englisch: „Don't go! Please! Bleib!“ Aber der Mann rief weinend zurück, dass er seine Familie nicht verlassen könne. Und überhaupt: „Warum hast du das nicht letzte Nacht gesagt, Ursula?“
Die beiden hatten jeweils noch ihr Namensschild von einem Ärztekongress an der Brust. Die beiden Rechercheure erfuhren später, dass beide auf einem Kongress für Tropenmediziner waren. Sie hatten sich offenbar ineinander verliebt und wussten jetzt nicht weiter. Es bildete sich langsam eine Menschentraube, die wissen wollte, wer hier so einen Lärm machte, das Sicherheitspersonal war zu dem Zeitpunkt schon verständigt – oder lachte noch vor den Überwachungskameras –, als es plötzlich einen dumpfen Knall gab.
Ursula war umgefallen, ein Schwächeanfall. Ihr Verehrer stürzte zu ihr, fühlte professionell ihren Puls – und legte sich auf sie. Er rief: „Ich liebe dich, ich liebe dich, ich will nicht gehen, glaub mir, aber ich muss.“ Sie war wach geworden, er rappelte sich hoch, wollte jetzt doch seinen Koffer einchecken, doch Ursula rannte noch einmal auf ihn zu und drückt ihn noch ein letztes Mal an ihren sehr massigen Körper. Gerade als die Sicherheitsmänner herankamen, ließ sie ihn los und stürzte weinend in Richtung Taxistand.
Noch heute erinnern sich die Mitarbeiter in Tegel an diese Geschichte. Eines von vielen Extrembeispielen, die sie täglich erleben, unabhängig vom Reiseziel. Dank ihrer Erfahrung aber können Evelyn Csabai und ihre Schwester Julia inzwischen schon abschätzen, an welcher Schlange welches Drama zu erwarten ist: Wenn das Verabschiedungskomitee pro Fluggast aus mehr als zehn Menschen besteht (Türkei), wenn die Menschen im Nerzmantel in der Schlange stehen (München oder die Schweiz), wenn besonders laut gesprochen wird (Italien oder Peking) oder wenn die Reisenden auf jeden Fall nicht bei einer Fluggastbefragung mitmachen möchten (Moskau).
Rastamänner, die Geschäftsfrauen küssen
Gleichzeitig mussten sich die beiden Flughafen-Kennerinnen von vielen Klischees verabschieden. Es gibt Rastamänner, die Geschäftsfrauen küssen, Studenten, die mit ihrer Professorin Händchen halten und Handwerker mit Pianistinnen. Das Leben bringt Menschen zusammen, trennt sie aber spätestens hier am Flughafen wieder. Dass aber auch einem Verabschiedungsschmerz nicht immer zu trauen ist, zeigt folgendes Erlebnis vom Check-in-Schalter:
Sie: „Ich werde dich vermissen.“
Er: „Ich dich auch, ruf mich gleich morgen früh an!“
Sie: „Ich liebe dich.“
Sie küssen sich, er geht zum Ausgang, zückt sein Mobiltelefon und sagt: „Sie ist bis morgen Abend weg, ich komme gleich zu dir und bleibe dann die ganze Nacht.“
Profis im Verabschieden
Dann gibt es noch die Profis im Verabschieden, so wie die Geschäftsreisenden. Man erkennt sie schon, sagt Evelyn Csabai, an der Art, wie sie am Flughafen ankommen: „Mann und Frau steigen schweigend aus, gehen zum Kofferraum, Mann nimmt Koffer, Frau gibt Mann einen Kuss, während ihre Hand schon die Kofferraum-Klappe zuschlägt, Frau geht zum Fahrersitz, er läuft zum Gate.“ Ihre Bewegungen gleichen einem Ballett, das jeden Morgen aufgeführt wird. Es sind Profireisende wie George Clooney in dem Hollywood-Film „Up in the Air“, die oft am Abend wieder zurück sind. Auch sie, erfahren die beiden Schwestern, werden Tegel vermissen.
Doch es gibt sie auch, die großen Liebesgeschichten, die nur hier passieren können, die man nur sieht, wenn man ganz genau hinschaut, einen ganzen Tag am Flughafen verbringt: vom Morgen mit dem koreanischen Jogger bis zum Abend, wenn die Putzfrauen die Arbeit von „Spucki“ mit Reinigungsmittel ungeschehen machen. Eine haben die beiden zusammen miterlebt, und es war eine der wenigen Momente, für den sie ihr Vorhaben brachen, sich nicht einzumischen:
Es ist der Morgenflug, 8.25 Uhr, von Berlin nach London. Ein junger Punk, vielleicht 18 Jahre alt, mit riesigem Irokesen-Haarschnitt wartet mit einem Mädchen am Check-in. Er hilft ihr mit dem Koffer, sie umarmen sich immer wieder. Bevor sie geht, gibt sie ihm eine zerdrückte Rose aus ihrer Tasche, sie könne sie nicht mitnehmen nach New York. Der Junge nimmt sie und hält sie in der linken Hand, während er die rechte an die Glasscheibe drückt, hinter der ihre Hand ist. Last Call. Beide weinen. Eine freundliche Flugbegleiterin legt dem Mädchen die Hand auf die Schulter, führt sie zur Gangway. Er winkt und winkt, bis sie nicht mehr zu sehen ist.
Am Nachmittag, gegen 17 Uhr, gehen Julia und Evelyn Csabai noch einmal an dem Gate vorbei und trauen ihren Augen nicht: Der Punk sitzt noch immer dort, perfekte Frisur, die Rose in der Hand, die Augen rotgeweint. Kraftlos winkt er mit der Rose noch in Richtung Gate. Julia Csabai läuft zu ihm hin und sagt: „Die Flugzeit nach London beträgt eine Stunde 54 Minuten, nach New York noch einmal sieben Stunden und 52 Minuten – in etwa einer Stunde wird sie landen.“ Er sieht sie an und lächelt: „Dann können wir ja gleich telefonieren!“ Dann rennt er den Gang hinunter, zum Bus mit der Aufschrift: TXL.