Nach mindestens zwei sexuellen Übergriffen werden die Sicherheitsmaßnahmen an Berliner Grundschulen verstärkt.

Der neunjährige Phillip war so stolz darauf, dass er den Weg zur Humboldthain-Schule schon allein gehen konnte. Doch das darf er jetzt nicht mehr, seine Mutter hat zu große Angst. Seitdem bekannt geworden ist, dass eine Drittklässlerin Anfang März auf der Toilette der Schule von einem Unbekannten schwer sexuell missbraucht worden war, ist Phillip nicht mehr alleine unterwegs. „Ich bringe meinen Sohn jetzt immer und hole ihn auch wieder ab“, sagt seine Mutter Tabitha Vasic. Die 33-Jährige ist wie alle Eltern, deren Kinder die Humboldthain-Grundschule besuchen, zutiefst beunruhigt. „Ein abscheuliches Verbrechen, es ist nicht zu fassen“, sagt Vasic. „Wie kann ein Mensch dazu fähig sein.“

Ebenso beunruhigend wie der Fall aus Wedding ist die Tatsache, dass auch in Frohnau (Bezirk Reinickendorf) ein Unbekannter versucht hat, eine Grundschülerin zu missbrauchen – und dabei ähnlich vorgegangen ist. Der Mann, ganz in schwarz gekleidet, hatte am 7. März kurz nach 8 Uhr versucht, sich an einer Schülerin der Victor-Gollanz-Grundschule in einer der Mädchen-Toiletten zu vergreifen. Das kleine Mädchen hatte offenbar riesiges Glück. Der Täter flüchtete, nachdem ein weiteres Mädchen auf der Suche nach ihrer Freundin in den Waschraum gekommen war und laut geschrien hatte. Die beiden Mädchen sind zusammen weggerannt. Die Polizei hat den Übergriff am Donnerstag bestätigt, sieht aber keinen Zusammenhang mit dem Fall in Wedding.

Freiwillige Elternlotsen

Viele Berliner Eltern sind jedoch stark beunruhigt und diskutieren angesichts der beiden Fälle heftig darüber, wie ihre Kinder geschützt werden können. Zwar ist allen klar, dass es keine hundertprozentige Absicherung geben kann. Dennoch fordern die Eltern flächendeckende Maßnahmen, die verhindern, dass sogenannte Schulfremde ohne Kontrolle das Gebäude betreten können. Der Landeselternausschuss (LEA) ruft alle Eltern dazu auf, Vorschläge zur Stärkung der inneren Sicherheit der Schulen zu machen. Der Vorsitzende, Günter Peiritsch, sagt, dass es bisher Überlegungen gebe, Eltern einen Schulbesuchsausweis auszustellen, Schüler in den Pausen als Meldeaufsichtsdienst einzuteilen und festzulegen, dass Kinder während der Unterrichtszeit nur zu zweit im Gebäude unterwegs sein dürfen. Zudem fordern die Eltern, die Schulsekretariate kontinuierlich zu besetzen.

Diese Forderung unterstützt auch die Vorsitzende des Grundschulverbandes, Inge Hirschmann. Sie fügt hinzu, dass jede Schule zwischen 6 Uhr und 18 Uhr einen Hausmeister brauche. Der müsse kontrollieren, wer sich in der Schule aufhält. „Das ist besser, als aus den Schulen Hochsicherheitstrakte zu machen.“ Schule lebe schließlich auch davon, dass Eltern sich dort aufhalten könnten und informelle Kontakte möglich sind. Hirschmann findet es angemessen, dass Eltern der Humboldthain-Schule jetzt ehrenamtlich als Lotsen unterwegs sind und jeden Erwachsenen kontrollieren, solange der Täter nicht gefasst ist. „Damit ist ein wichtiges Stück Öffentlichkeit hergestellt worden“, sagt Hirschmann.

Der Appell von Bildungssenatorin Sandra Scheeres geht in die ähnliche Richtung: „Jede Schule sollte jetzt dafür sorgen, dass sich keine schulfremden Personen im Gebäude aufhalten können“, sagt sie. Das müsse entsprechend der jeweiligen Gebäudesituation und in Absprache mit dem Schulträger und den Eltern geschehen. Außerdem sollten die Schulen weiterhin die guten Präventionsangebote von Polizei und Jugendhilfe nutzen.

An der Humboldthain-Grundschule sind inzwischen vier der fünf Zugänge zum Schulareal verschlossen worden. Das eiserne Schultor am Haupteingang wurde gestern von Handwerkern repariert und verstärkt, denn das Schloss rastete nicht mehr fest genug ein. Dabei wurde die Türklinke durch einen Knauf ersetzt, der nur von innen geöffnet werden kann. Bis zum Zeitpunkt des Sexualverbrechens hatte das Schultor meist weit offen gestanden. Die Schulleitung der Victor-Gollancz-Grundschule hatte nach dem Vorfall auf der Schultoilette Anfang März auch andere Schulen im Bezirk in einem Schreiben gewarnt. Schulleiter Erich Ergang hat zudem festgelegt, dass die Kinder nur noch zu zweit auf die Toilette gehen dürften. Auch wird das Schulgebäude morgens nicht mehr um 7 Uhr sondern erst eine Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn geöffnet. „Wir haben außerdem eine Projektgruppe gegründet, die sich mit Fragen der Schulsicherheit beschäftigen wird“, sagt Ergang. In dem Schreiben an die Eltern hat der Schulleiter diese aufgefordert, ihre Kinder bis zum Schultor zu begleiten und nach Schulschluss abzuholen. Außerdem hat er ihnen nahegelegt, die Schule nur nach vorheriger Anmeldung aufzusuchen. Die Eltern wurden darum gebeten, mit ihrem Kind altersgemäß über angemessenes Verhalten in bedrohlich wirkenden Situationen zu sprechen.

Schockiert zeigt sich auch die Schulstadträtin von Reinickendorf, Katrin Schultze-Berndt, die selbst Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter ist. „Wir müssen Wege suchen, um zu verhindern, dass so etwas passiert“, sagt sie. Die Schulen würden sich dabei in dem Spannungsfeld bewegen, dass sie einerseits geschützter Raum für die Kinder sein müssen, andererseits aber auch ein offener Bildungsort. Schultze-Berndt plädiert dafür, dass die Gremien von Eltern und Lehrern in den Schulen in Absprache mit den Präventionsbeauftragten der Polizei beschließen, welche Maßnahme sie wünschen. Die Stadträtin will die Schulen dann bei der Umsetzung unterstützen. Ein hilfreicher Schritt sei sicher auch, wenn Eltern sich darauf einigen, ihre Kinder nicht mehr bis in die Klasse zu begleiten. Dann würden die Aufsichtspersonen Schulfremde schneller erkennen können.

In Neukölln haben zahlreiche Schulen bereits Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Das Eindringen schulfremder Personen ist hier ein Dauerproblem. Deshalb hat das Bezirksamt beschlossen, den Wachschutz für zehn Schulen erneut auszuschreiben, sobald der Haushalt steht. Zu Beginn dieses Jahres mussten diese privaten Sicherheitsdienste nach vier Jahren abgezogen werden, weil die Verträge wegen der vorläufigen Haushaltsplanung nicht neu ausgeschrieben werden konnten. An der Albert-Schweitzer-Oberschule sind kurz darauf im Januar Heroinsüchtige in die Schultoilette eingedrungen, um sich dort einen Schuss zu setzen.

Kein Neukölln-Problem

Die Schulen reagieren mit Lehrerstreifen in den Pausen und verschlossenen Türen. „Hausmeister und Schulleiter machen gemeinsame Rundgänge während des Unterrichts, um schulfremde Personen aufzuspüren“, berichtet Franziska Giffey, Schulstadträtin von Neukölln (SPD). An der Albert-Schweitzer-Schule wird nun der Einbau einer Wechselsprechanlage geprüft. „Die Vorfälle in Mitte und Reinickendorf zeigen, dass das Thema Sicherheit an Schulen nicht nur ein Neukölln-Problem ist“, sagt Giffey.

Bei Polizei und Staatsanwaltschaft geht indes die Sorge um, dass der oder die noch unbekannten Täter erneut zuschlagen könnten. Nicht nur deshalb ermittelt das Landeskriminalamt mit Hochdruck. Man habe DNA-Spuren gesichert, denen man nachgehe, heißt es.

Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft, sagt, dass man auch auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen sei und um Hinweise bitte (an die Polizei unter 4664 913402). Zeugen im Fall Wedding wollen zum Tatzeitpunkt einen Mann mit untersetzter Figur auf dem Schulgelände gesehen haben. Sie beschreiben einen 30 Jahre alten Mann, zwischen 1,70 und 1,80 Meter groß, mit kurzen, schwarzen Haaren.

Tabitha Vasic hofft, dass der Täter schnell gefasst wird. Damit er nicht noch einmal zuschlagen kann. Und damit ihr Sohn Phillip wieder frei und unbesorgt zur Schule laufen kann.