Was bedeutet es für ein Kind, ohne Vater aufzuwachsen? Fachärztin Dr. Gisela Dinsel spricht im Interview über Selbstwert, Star Wars und Machos

Was bedeutet es für ein Kind, wenn sein Vater nicht verfügbar ist? Darüber sprachen wir mit Dr. Gisela Dinsel. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie in der Klinik Nikolassee und beschäftigt sich mit der Bewältigung insbesondere trennungsbedingter Vaterlosigkeit.

Berliner Morgenpost: Frau Dr. Dinsel, Ein-Eltern-Familien sind heute keine Seltenheit mehr. Was bedeutet es für ein Kind, wenn die Familie nicht komplett ist?

Gisela Dinsel: Meist ist es ja der Vater, der abwesend ist. Natürlich kann eine Mutter viel durch Engagement ausgleichen, aber vollständig ersetzen kann sie den Vater nicht. Er stellt das männliche Element dar und ist insbesondere für die Entwicklung der sexuellen Identität wichtig, die zwischen drei und sechs Jahren stattfindet. Für Jungen ist der Vater die männliche Identifikationsfigur, Mädchen brauchen die männliche Wertschätzung. Das setzt natürlich voraus, dass der Vater emotional verfügbar ist.

...was auch bei intakten Familien nicht immer der Fall ist. Viel Arbeit, Trennung, Krankheit oder Tod: Das alles können Gründe für Abwesenheit sein. Spielt der Grund für das Kind eine Rolle?

Ja, sehr! Das Alltagserleben ist in diesen Fällen zwar gleich. Also: Der Vater kommt nicht zum Fußballspiel oder zur Theateraufführung. Doch es ist entscheidend für das Kind, ob der Vater willentlich weg ist oder nicht willentlich, etwa, weil er schwer krank ist. Das willentliche Wegsein wird als Ablehnung wahrgenommen. Das Kind fragt sich: Ist etwas nicht richtig mit mir? Das ist schlecht fürs Selbstwertgefühl. Je älter das Kind, desto sensibler reagiert es, denn es stellt fest: Oh, in anderen Familien gibt es die Zuwendung, die ich nicht bekomme. Manchmal wird der Mangel, das Leiden auch erst im Erwachsenenalter bewusst.

Leiden vaterlose Kinder denn zwangsläufig?

Nein, nichts ist zwangsläufig. Es gibt ja auch Möglichkeiten, die Defizite auszugleichen. Friedrich Nietzsche hat gesagt: „Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.“ Das muss nicht unbedingt ein neuer Partner sein. Dass jemand zur Familie kommt, der das Kind stabil bis ins Erwachsenenalter begleitet, ist sowieso eher selten.

Allerdings ist das Umfeld von Kindern ja überwiegend weiblich dominiert, wenn man an Kita und Schule denkt...

Ja, und leider ändert sich das nur langsam. Wenn ein Junge keine starke Vaterfigur hat, die ihm Sicherheit gibt, können zwei Dinge passieren: Entweder er wird zum Muttersöhnchen, weil es sich stärker mit der Rolle der Mutter und Frau identifiziert. Oder er entwickelt sich zum Macho. Das ist keine sichere Männlichkeit, sondern eine Art, Unsicherheit zu überspielen. Also eigentlich ein Hilferuf. Kinder brauchen real erfahrbare Männlichkeit. Wie ist der? Wie macht der das? Das wollen, das müssen Kinder erleben. Vor allem von Jungen wird das strukturelle Männerdefizit empfunden und ruft eine starke Sehnsucht nach der Vaterfigur hervor.

Es heißt, dass die Industrie mit dieser Sehnsucht Millionen macht. Kinofilme mit extrem männlichen Helden, Spielfiguren und PC-Spiele in Star Wars-Machart dienten als Ersatz für ausgefallene Tobe-Stunden mit den Vätern. Ist da was Wahres dran?

Absolut. Der Erfolg solcher Filme und Spiele ist Ausdruck des Bindungswunsches an den zugewandten Vater. Die Geschichten laufen ja meist nach einem ähnlichen Schema: Es gibt einen bedürftigen, häufig vaterlosen Jungen, der auf einen Supermann trifft. Dieser wird für ihn eine Art Mentor. Der Junge wird mit einer phallischen Waffe ausgestattet, etwa mit einem Leuchtschwert, und kämpft damit gegen archaische Kräfte. Dieser Kampf symbolisiert übrigens den Kampf gegen die über-mächtige Mutter-Kind-Beziehung. Leider ziemlich einseitig: In einer intakten Familie könnte das Kind erleben, dass Mutter und Vater zwar auch mal streiten, es aber auch wieder zum Ausgleich kommt – ohne dass eine der Mächte zerstört werden muss.

Kann man die heutige Vaterlosigkeit eigentlich mit der der Kriegskinder gleichsetzen?

Vaterlosigkeit bleibt ein Stück weit Vaterlosigkeit. Doch die Situation der Kriegskinder war anders. Ihre Väter waren häufig tot oder traumatisiert, die Mütter ebenfalls schwer belastet. Aber weil damals geschwiegen und verdrängt wurde, war die innere Not der Kinder nie Thema. Viele Kinder haben gut funktioniert, um es ihren Eltern nicht noch schwerer zu machen, und tun es bis heute. Emotional sind viele jedoch blockiert. Heute gehen wir zum Glück aufgeklärter mit der kindlichen Entwicklung um.

Mütter leiden ja mit dem Kind, wenn sich der Vater nicht einbringt. Was tun? Wie gehen getrennte Eltern gut miteinander um?

Die oberste Regel lautet: Nie destruktiv streiten! Denn Streit empfinden die Kinder als Ablehnung ihrer selbst, sie spüren sich dann schuldig. Natürlich ist es schwierig, wenn nicht beide Elternteile verinnerlicht haben, dass Elternverantwortung etwas fürs ganze Leben ist und nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten besteht. Und es ist im Alltag auch nicht immer einfach, den Paarkonflikt und die Elternverantwortung zu trennen. Was wohl am ehesten hilft, ist Gelassenheit. Und das Wissen, dass es einfach grundlegende Unterschiede zwischen Müttern und Vätern gibt und die auch gut sind. So toben Väter mehr und nehmen die Kinder sehr früh geschlechtsspezifisch wahr. Man tut gut daran, die Unterschiede zu akzeptieren.

Wie sollten Alleinerziehende das Familienleben am besten gestalten?

Kränkung, Hilflosigkeit, Bedürftigkeit: All das dürfen Eltern nicht bei ihrem Kind abladen. Da ist auch die Gesellschaft gefragt. Ich wünsche mir mehr Unterstützung für Alleinerziehende, finanziell, aber auch seelisch. Die Belastung ist groß, das Armutsrisiko erhöht, genauso wie die Häufigkeit chronischer und psychosomatischer Erkrankungen. Das alles landet natürlich auch beim Kind. Das müssen wir, so gut es geht, verhindern.