Personaler verlassen eingeschlagene Wege, um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen. So laden sie schon mal zur Bootstour auf dem Hudson River ein. Hier testen sie, ob die Bewerber zur Firma passen.
Walldorf in, ein heißer Sommertag im vergangenen Jahr: Vor der Konzernzentrale eines recht erfolgreichen Softwareherstellers fährt ein Eiswagen vor und parkt so geschickt, dass ihn die Mitarbeiter des Konzerns auf dem Weg in die Betriebskantine passieren müssen.
Der Eismann in der Mittagsglut ist allerdings kein kühner Kleinunternehmer, sondern einer der wichtigsten Personalbeschaffer des Landes, unterwegs im Auftrag eines Telekommunikationsunternehmens.
Er interessiert sich deshalb auch nur wenig für den Absatz von Speiseeis und viel für die Softwarespezialisten an der Theke, denen er von den Karrierechancen in seinem Unternehmen vorschwärmt und sie so abzuwerben versucht.
Mann im Eiswagen
Die Geschichte vom Mann im Eiswagen wäre nur eine hübsche Anekdote, stünde sie nicht für einen Trend, der immer mehr Unternehmen erfasst: Die Mitarbeitergewinnung ist zur drängendsten Aufgabe deutscher Personalabteilungen geworden – und im Wettbewerb um geeignete Mitarbeiter müssen sie immerzu neue Methoden ersinnen, die vor einiger Zeit noch undenkbar waren.
Professor Tim Weitzel von der Universität Bamberg hat diese Methoden im vergangenen Jahr untersucht und dafür die 1000 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland befragt.
Die aktuelle Situation ist bedenklich: Ein Drittel der offenen Stellen, so ein Ergebnis der Studie, sei derzeit, wenn überhaupt, nur sehr schwer zu besetzen. Die Strategie, mit der von Konzernzentralen aus nach den besten Köpfen gefahndet wird, trägt dabei längst nicht mehr den prosaischen Titel „Personalbeschaffung“, sondern wird als Recruiting bezeichnet.
Berge von Mappen
Stefan Moschko ist 54 Jahre alt und kennt noch die Zeit, als Personalabteilungen Zeitungsinserate in Auftrag gaben und dann Berge von Bewerbungsmappen abarbeiten mussten. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist der Personalleiter Siemensianer.
„Vor dreißig Jahren hielt ein Arbeitsverhältnis ein Leben lang“, sagt Moschko. Doch ein Wertewandel habe die Maßstäbe junger Menschen verändert, das Unternehmen muss sich inzwischen auf potenzielle Mitarbeiter zubewegen. Über seine Arbeit spricht Moschko so systematisch, als konstruiere er aus Worten einen Schaltkreis: Erstens, zweitens, drittens und zurück zum Ausgangspunkt.
Da ist zunächst die aktuelle Situation bei Siemens: 4400 Neueinstellungen im vergangenen Jahr, derzeit etwa 1100 offene Stellen. Mehr als 90.000 Bewerbungen sind 2013 bei Siemens eingegangen, „damit“, sagt Moschko, „ließen sich offene Stellen weitgehend besetzen“.
Blick in die Zukunft
Doch Recruiting sei mehr, als den Tagesbedarf eines Unternehmens zu befriedigen. „Ich muss auch beachten, wie der Bewerbermarkt in der Zukunft aussieht und in welchen Bereichen der Personalbedarf dann besonders groß ist.“ Über diese Zukunft ist regelmäßig Schauriges zu lesen: mehr Menschen im Ruhestand, weniger Schulabgänger, wachsender Fachkräftemangel.
Siemens habe deshalb ein Recruiting entwickelt, das vorsorgen soll. So betreibe der Konzern auf Messen, in Medien und im Internet verstärkt Employer Branding. Der Begriff ist, so wie ein beträchtlicher Teil des Vokabulars deutscher Personalbeschaffer, ein Anglizismus.
Er bedeutet im Grunde nur, ein Unternehmen im Bewusstsein einer bestimmten Zielgruppe als attraktiven Arbeitgeber zu verankern. So erhöht Siemens die Zahl der Betreuungsplätze in den eigenen Kitas und sorgt dafür, dass möglichst viele Menschen davon erfahren und schließlich im Gedächtnis behalten, wie gut es die Menschen bei Siemens haben.
Umgang mit Bewerbern
Mit seinem Talent-Relationship-Management – kurz: dem Umgang mit Bewerbern – will das Unternehmen verhindern, die vielen Interessenten zu verprellen, die sich bei Siemens vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht haben. „Auch wenn wir in einem bestimmten Bereich gerade niemanden suchen, schicken wir Bewerbern regelmäßig Newsletter oder laden sie zu Seminaren oder Kaminabenden ein“, sagt Moschko.
Der Personalleiter zählt weitere Projekte auf – Nachwuchsmessen, Apps und Social Media –, doch alles ordne sich einem Prinzip unter: „Wir müssen die Leute da abholen, wo sie sind.“
Sarah Wagner ist dort abgeholt worden, wo sie war, man hat sie sogar in ein Flugzeug nach New York gesetzt und ihr einen viertägigen Workshop mit 40 anderen Akademikern spendiert. Ihnen allen war gemeinsam, gerade auf dem Gebiet der organischen Chemie promoviert zu haben.
Wagner zum Beispiel befasste sich mit den Zuckermolekülen in Peptiden und ihrer synthetischen Herstellung für die Krebsbekämpfung. Das etwa müssen dann auch die Themen gewesen sein, über die sich die Chemiker an Grillabenden und auf Bootstouren auf dem Hudson River unterhalten haben.
Ist er teamfähig?
Doch Bayer interessiert sich auf solchen Workshops nur wenig für Naturwissenschaft, es will die Teilnehmer kennenlernen und etwas über ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten erfahren. Wagner hatte Erfolg: Kurz nach dem Workshop wurde sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und leitet heute ein Labor für medizinische Chemie.
Dirk Pfenning ist bei Bayer für Personalgewinnung zuständig, so auch für Active Sourcing – so nennen es Personaler, wenn sie auf potenzielle Mitarbeiter direkt zugehen und für die Arbeit in ihrem Unternehmen werben. Pfenning sagt, Bayer blicke an für sich gelassen auf das Recruiting neuer Mitarbeiter, denn Bewerber gebe es ausreichend.
Active Recruiting sei aber vor allem in einem Bereich ein wichtiges Thema: „Wir betreiben in Deutschland einen Großteil unserer Forschung, die Suche nach den besten Köpfen ist hier schon eine Herausforderung“, sagt er. Der Pharmahersteller setzt schon in der Schule an, sponsert „Jugend forscht“, vergibt Stipendien an Studierende, kooperiert mit Hochschulen und unterstützt dort Forschungsbereiche. Allein 80 Mitarbeiter von Bayer haben einen Lehrauftrag. Die Vernetzung sei so wichtig, weil Bayer dahin müsse, wo der akademische Nachwuchs ist.
Der Pensionswelle trotzen
Auch die Deutsche Bahn hat einen Fahrplan, mit dem sie der bevorstehenden Pensionswelle trotzen will. Ihre Mitarbeiter sind im Durchschnitt 46 Jahre alt und haben vom Gleisbau bis zum Fahrdienstleiter einen bahnspezifischen Beruf erlernt. Das macht die Nachwuchsgewinnung nicht einfacher. Derzeit betreibt die Bahn eine Kampagne, die „Kein Job wie jeder andere“ heißt und neben emotionalen Fernsehspots auch ein ausgeklügeltes Online-Portal für Schüler, Studenten und Berufserfahrene umfasst.
Am Bildschirmrand läuft ein Zähler, der 2031 offene Stellen vermeldet. Mit der neuen Kampagne will die Bahn sich als Arbeitgeber zeigen, der Sicherheit, Übernahmegarantien und eine offene Unternehmenskultur verheißt.
Seit Mitte 2012 gibt es bei der Deutschen Bahn eine eigens ins Leben gerufene Abteilung für Personalgewinnung mit 160 Mitarbeitern, die direkt an den Vorstand berichtet. Kerstin Wagner leitet diesen Bereich, in dem 2013 mehr als 200.000 Bewerbungen bearbeitet wurden. Bei Bewerbern beobachtet sie seit einiger Zeit eine veränderte Erwartungshaltung, sie seien heute besser über das Unternehmen informiert und wollen individuell angesprochen werden.
Interessenten seien längst nicht mehr „proaktiv“, sagt Kerstin Wagner, das Unternehmen müsse heute selbst die Initiative ergreifen. Das beginne schon mit der Karriereseite im Internet, die mobil abrufbar sei und die längst nicht mehr nur offene Stellen anzeige, sondern auch mit Spielen aufwarten müsse.
Noten zählen nicht mehr
Neben diesem technischen Aspekt gebe es aber auch den inhaltlichen. „Wir verändern gerade unsere Perspektiven, weil sich der einst riesige Bewerberpool immer mehr verengen wird“, sagt die Personalerin. Die Bahn hat deshalb die Schulnoten als Auswahlkriterium abgeschafft. „Wir achten viel mehr auf die sozialen Kompetenzen unserer Bewerber“, sagt Kerstin Wagner.
Um auf sich aufmerksam zu machen, hat die Bahn schon Kaffee in Bechern verteilt, auf denen Stellenanzeigen abgedruckt waren, sie bietet in Schülercamps Einblicke ins Berufsleben und schickt Mitarbeiter in ihre alten Schulen zurück, um für die Bahn zu werben.
Für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) wäre das alles vermutlich ein bisschen zu viel des Guten, „wir wollen keine falschen Erwartungen schüren“, sagt Pressesprecher Markus Falkner. Das Verkehrsunternehmen hat nach 1990 nur wenig neues Personal einstellen können, doch inzwischen ist der Bedarf an Tischlern, Fahrern und Controllern gestiegen.
Mag der Druck auch wachsen, auf schrille Aktionen bei der Personalgewinnung will das Unternehmen verzichten: „Wir leben nicht hinterm Mond, aber uns ist es wichtig, authentisch zu bleiben“ sagt Markus Falkner.
Kristin Schmidt ist ganz klassisch zu den Berliner Verkehrsbetrieben gekommen, sie hat sich nach ihrem Studium in Dresden als Trainee beworben, routierte durch Abteilungen, führte Interviews mit Mitarbeitern und lernte das Unternehmen so näher kennen. Immer wieder wurde sie in dieser Zeit von Banken und Versicherungen in sozialen Netzwerken angeschrieben, man bot ihr Verantwortung, gutes Gehalt, Karrierechancen. Die 30-Jährige aber hatte sich entschieden, sie blieb bei der BVG. Ganz ohne Recruiting.