Brüssel. Die Dienstwagen können stehen bleiben. Den Weg durch den Brüsseler Leopoldpark zu einem nahegelegenen Hotel gehen Heinrich Hiesinger und Natarajan Chandrasekaran zu Fuß. Die Chefs von Thyssenkrupp und Tata wirken entspannt. Gerade haben sie die Verträge für ihre historische Stahlfusion besiegelt.
Viele Fusionen scheitern, weil sie zu komplex sind oder die Unternehmen nicht zueinander passen. Warum sollte das bei Thyssenkrupp Tata Steel anders sein?
Natarajan Chandrasekaran: Weil unser neues Unternehmen eine starke industrielle Logik hat. Wir profitieren beide in gleicher Weise erheblich von der Bündelung unserer europäischen Stahlaktivitäten. Das schafft Mehrwert für unsere Unternehmen – für die beiden Stahlbereiche und für Tata und Thyssenkrupp. Wir haben uns die Zeit genommen, Vertrauen aufzubauen, kritische Punkte anzusprechen und Lösungen zu finden, die Bestand haben werden.
Hatten Sie den harten Widerstand der Gewerkschaften erwartet?
Heinrich Hiesinger: Uns ist bewusst gewesen, dass wir viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Was mich aber besonders freut: Nachdem wir anfangs mit einem klaren „Nein“ der Gewerkschaften konfrontiert waren, gibt es nun ein eindeutiges „Ja“. Wir wollten die Stahlfusion immer mit den Mitarbeitern gestalten, nicht gegen sie. Da ist es doch beeindruckend, dass am Ende mehr als 90 Prozent im Stahl dem Tarifvertrag zur Fusion zugestimmt haben.
In einigen Jahren stehen ein Bochumer Thyssenkrupp-Werk und der Standort Duisburg-Hüttenheim auf dem Prüfstand. Die Schließung von Anlagen droht. Hat die Fusion auch harte Einschnitte zur Folge?
Hiesinger: Die Fusion ist erst einmal eine gute Nachricht für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir haben Garantien formuliert, die es in diesem Ausmaß zuvor noch nicht gegeben hat. Aber wir sind auch ehrlich: Mit Blick auf einige wenige Anlagen müssen wir schauen, wie es nach dem Jahr 2020 weitergeht. Insgesamt ist uns ein guter Ausgleich der Interessen gelungen. Wir stehen beim Stahl zu unserer Verantwortung.
Wie wichtig ist es, die Überkapazitäten in Europa zu senken?
Chandrasekaran: Entscheidend für uns sind die Synergien, die letztlich einen Wert von insgesamt fünf Milliarden Euro darstellen. Das stärkt unsere Wettbewerbsfähigkeit und das gibt uns auch die Kraft, in Forschung und Entwicklung, also in die Zukunft des gemeinsamen Unternehmens zu investieren.
Hiesinger: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Mit dem Joint Venture gehen wir gestärkt und mit einer viel besseren Position in den Wettbewerb.
Verglichen mit Arcelor-Mittal und Stahlkonzernen aus China oder Japan ist aber auch Thyssenkrupp Tata Steel noch klein. Sind weitere Fusionen in Europa denkbar?
Hiesinger: Schon aus Wettbewerbsgründen wäre ein weiterer Fusionsschritt innerhalb Europas ziemlich schwierig. Ich bin davon überzeugt: Das Joint Venture mit Tata gibt den Beschäftigten eine stabile Zukunft.
Stahl gehört zum Kerngeschäft von Tata, aber künftig nicht mehr von Thyssenkrupp.
Chandrasekaran: Es gibt ein klares Bekenntnis von beiden Unternehmen. Wir werden erst einmal das Joint Venture bauen und Wert schaffen, danach können wir über alles Weitere nachdenken.
Hiesinger: Apropos Werte schaffen. Unser 50-Prozent-Anteil am Joint Venture wird für Thyssenkrupp einen deutlich höheren Wert haben als unser gesamtes Stahlgeschäft heute. Das Gemeinschaftsunternehmen zahlt sich damit nicht nur für den Stahlbereich, sondern bilanziell auch für den Konzern erheblich aus.
Neben dem Brexit könnten sich auch die Stahlzölle von US-Präsident Trump negativ auf die europäische Industrie und damit auch auf Thyssenkrupp Tata Steel auswirken. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Hiesinger: Die Erfahrung zeigt, dass freier Handel den Wohlstand der Volkswirtschaften insgesamt erhöht. Daher kämpfen wir dafür. Protektionismus hat noch nie langfristig Werte geschaffen. Zölle gehen einfach in die falsche Richtung. Die aktuelle Eskalation ist deshalb schädlich. Wir werden hoffentlich sehen, dass die internationale Politik einen Weg zur Deeskalation findet. Wir als Unternehmen haben unsere Hausaufgaben gemacht. Das Gemeinschaftsunternehmen ist viel besser gewappnet, um Unsicherheiten zu begegnen als jeder von uns alleine. Wir können so besser auf das reagieren, was auch immer kommt.
Chandrasekaran:Das sehe ich auch so.
Hiesinger: Das Stahlgeschäft, das wir direkt mit den USA machen, ist überschaubar. Besorgt sind wir mehr über die indirekten Effekte. Denn Stahl, der künftig womöglich nicht mehr in die USA gelangt, könnte zusätzlich auf den europäischen Markt gelangen. Noch sehen wir diese Auswirkungen nicht, aber das Risiko ist da.
Die Tata-Gruppe ist ein gigantischer Mischkonzern. In Deutschland werden solche Konglomerate von Aktienkurs-Analysten kritisch beäugt. Können Sie einem Investor die Vorteile eines Mischkonzerns erklären?
Chandrasekaran: Wir haben eine lange und erfolgreiche Geschichte mit einer großen Tradition. Wir haben eine Holding-Struktur und sind in vielzähligen Industrien tätig: Auto, Textilien, Hotels, Energie, Versicherungen. Unser Stahlgeschäft gehört zu den Flaggschiffen. Unser Motto war und ist: Was gut ist für Indien, ist gut für Tata.
Herr Hiesinger, Sie möchten Thyssenkrupp zu einem Ingenieurkonzern umbauen. Mit der Stahlfusion kommen Sie einen großen Schritt nach vorne. Ist Ihre Mission mit dem Abschluss des Joint Ventures erfüllt?
Hiesinger: Zunächst einmal: Wir haben Thyssenkrupp tatsächlich tiefgreifend verändert. Als ich angetreten bin, hatten wir acht Sparten im Konzern. Nach dem Joint Venture werden es vier sein. Wir haben den Anteil des Stahls, der viel Kapital bindet, von 40 auf fünf Prozent gesenkt. Wir haben einen umfassenden Kulturwandel umgesetzt. Wir haben die Schulden des Unternehmens erheblich gesenkt und die Ergebnissituation in den letzten Jahren deutlich verbessert. Aber die Arbeit ist nie zu Ende. Und unser Weg ist sehr klar. Thyssenkrupp wird zu einem starken Industrie- und Dienstleistungskonzern. In der nächsten Woche werden wir dazu dem Aufsichtsrat unser geschärftes Strategiebild vorstellen.