Die Zahlen klingen dramatisch: Mehr als 150.000 Alten- und Krankenpfleger werden im Jahr 2025 in Deutschland fehlen, lautet die jüngste Modellberechnung des Statistischen Bundesamts. Schon heute gibt es laut der Prognose rund 34.000 Vollzeitkräfte zu wenig in Altenheimen, ambulanten Pflegediensten und Krankenhäusern - Pflegenotstand.
Noch schwärzer klingt die Zukunft des Berufsstandes, wenn man die Statistik liest, die der Interessenverband bpa (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) für seine Argumentationen nutzt. Demnach werden in Deutschland momentan händeringend 30.000 Pfleger allein für die Altenpflege gesucht, und innerhalb der nächsten zehn Jahre wird die Lücke auf 220.000 anwachsen. Der Fachkräftemangel führe dazu, dass schon heute ganze Abteilungen in Pflegeheimen geschlossen werden müssten, sagte bpa-Präsident Bernd Meurer bei der Vorstellung der Zahlen im August.
Der tatsächliche Fachkräftemangel in der Altenpflege dürfte jedoch weit geringer sein, wie aus Recherchen von Morgenpost Online hervorgeht. Denn die Schätzung des Statistischen Bundesamtes - die bereits für das Jahr 2010 eine Lücke von rund 34.000 Fachkräften auswies - lässt wichtige Daten außer Acht.
Das bestätigte die Behörde auf Anfrage. "Unsere Prognose basiert auf der Annahme, dass jeder Pflegebedürftige komplett von Fachkräften versorgt würde. Dass es tatsächlich per Gesetz nur jeder Zweite sein muss, ist nicht berücksichtigt", sagt die zuständige Wissenschaftlerin Anja Afentakis. In den meisten Bundesländern müssen laut gesetzlicher Vorgabe 50 Prozent der Pfleger in Heimen examinierte Altenpfleger mit dreijähriger Ausbildung sein. Auch die Zahl, die Branchenverband bpa verbreitet, gilt unter Gesundheitsökonomen als angreifbar. Sie beruht, wie der bpa bestätigt, auf einer Mitgliederbefragung, deren Ergebnisse auf ganz Deutschland hochgerechnet wurden.
Die heute existierende Lücke ist somit wohl um einige Tausend Fachkräfte kleiner sein als von den Forschern berechnet - wenn es denn überhaupt schon eine gebe, urteilen unabhängige Branchenexperten. "Deutschlandweit beobachten wir bisher noch keinen Fachkräftemangel", sagt etwa Dennis Ostwald, Geschäftsführer des Wirtschaftsforschungsinstituts WifOR in Darmstadt.
Ein Fachkräftemangel sei derzeit zwar in strukturschwachen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern zu beobachten, sagt der Ökonom, der derzeit an einer Studie zu regionalen Unterschieden auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe forscht. In anderen Bundesländern dagegen bestehe derzeit eher ein Über- als ein Unterangebot mit Pflegefachkräften. "In Baden-Württemberg etwa kommen auf rund 41.000 Pfleger rund 1800 als offen gemeldete Stellen. Angesichts dieses kleinen Anteils schon von einem Mangel zu sprechen, wäre sicher nicht angebracht."
Aus der Studie des Statistischen Bundesamtes geht auch hervor, dass derzeit sogar ein Überangebot von mehr als 70.000 Pflegekräften besteht, wenn man alle verfügbaren Arbeitnehmer mit einrechnet, also auch un- und angelernte Altenpfleger.
Die Ergebnisse unterscheiden sich drastisch je nachdem, wen der jeweilige Statistiker als "Altenpfleger" definiert - was wiederum davon abhängen kann, welche Ziele der Auftraggeber verfolgt. Der Interessenverband bpa und der Arbeitgeberverband Pflege, das Tariforgan der großen privatwirtschaftlichen Heimbetreiber, dürfte sich über Statistiken freuen, die eine möglichst hohe Lücke ausweisen. Beweist doch der viel beschworene Fachkräftemangel, dass es kaum möglich ist, genügend ausgebildete Altenpfleger einzustellen und so die angemessene Versorgung der Bewohner sicherzustellen.
Relevant ist dies vor dem Hintergrund, dass, wie die Morgenpost Online vergangene Woche berichtete, etwa jedes fünfte Altenpflegeheim in Deutschland im Verdacht steht, seine Bewohner und die Krankenkassen zu betrügen , indem es weniger ausgebildete Altenpfleger beschäftigt als gesetzlich vorgeschriebenen 50 Prozent.
Doch wo Pflegenotstand herrscht, so die Argumentation der Verbände, trifft den Heimbetreiber keine Schuld, wenn bei der Kontrolle durch die staatliche Aufsicht eine zu niedrige Fachkraftquote auffällt.