Pflege

Jedes fünfte Altenheim in Deutschland betrügt

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Anette Dowideit

Foto: picture alliance / dpa

Viele deutsche Seniorenheime setzen deutlich weniger Pfleger ein als gesetzlich vorgeschrieben - und betrügen so Bewohner und Kassen. Sozialverbände und Pflegeexperten kritisieren zu lasche Kontrollen.

Etwa jedes fünfte Altenheim in Deutschland betrügt seine Bewohner und die Pflegekassen, indem es weniger Altenpfleger beschäftigt als für die Versorgung Pflegebedürftiger nötig wäre. Das geht aus einer mehrmonatigen Recherche von "Morgenpost Online“ hervor, für die verschiedene Heimaufsichten auf Landes- und Kommunalebene befragt wurden.

In Hessen, dem Bundesland, das über die am besten zentral dokumentierte Erfassung der Daten verfügt, verstieß im vergangenen Jahr sogar jedes vierte Heim gegen die gesetzlichen Vorgaben und strich die eingesparten Löhne als Gewinne ein.

Die Spitzen der Sozialverbände und führende Pflegeexperten im Bundestag und kritisieren die derzeitigen Kontrollen auf Landes- und Kommunalebene als zu lasch. „Dort, wo tatsächlich gefährliche Pflege stattfindet, muss durch die Aufsichten entschlossen gehandelt werden. Dann darf auch eine Schließung einer wiederholt auffälligen Einrichtung kein Tabu sein“, sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, der „Morgenpost Online“. Der gesundheitspolitische Sprecher der Union Jens Spahn sagte, die Aufsicht sei nicht grundsätzlich zu nachsichtig, „sie setzt aber nicht selten die falschen Schwerpunkte."

Bisher drohen den Heimbetreibern, die zu wenige Altenpfleger beschäftigen , in der Regel lediglich Verwarnungen oder Bußgelder. Nur in besonders drastischen Fällen, bei denen der Personalmangel bereits zu spürbaren Gefährdungen der Bewohner wie Unterernährung oder Misshandlungen geführt hat, verhängen die Behörden Belegungsstopps oder verfügen in wenigen Einzelfällen Schließungen.

Die für Gesundheit und Soziales in der SPD-Bundestagsfraktion zuständige Abgeordnete Elke Ferner sagte, es sei ein Problem, dass es „als Kavaliersdelikt“ abgetan werde, wenn Heime absichtlich zu wenige Pflegekräfte anstellten. „Wir können nur an die Heimaufsicht auf Landesebene appellieren, dass sie die gesetzlichen Möglichkeiten für Strafen ausschöpft, damit solche Methoden unattraktiver werden.“

Sanktionen werden nicht genutzt

Die Grünen-Pflegeexpertin im Bundestag Elisabeth Scharfenberg sagt: „Steigende Rendite zu Lasten des Personals und damit der Qualität, das darf es nicht geben.“ Die rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten der Heimaufsichten kämen möglicherweise zu selten zum Einsatz.

Wie groß die Mängel im deutschen Pflegesystem tatsächlich sind, zeigen auch Daten des Spitzenverbandes des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDS). Nach Auskunft des MDS stellen die Prüfer bundesweit bei unangemeldeten Kontrollen in etwa jedem dritten Heim „Ernährungsprobleme“ bei den Bewohnern fest, darunter Unterernährung oder Dehydrierung. In bis zu einem Viertel der Heime werden demnach Wunden nicht optimal versorgt.

Das Bundesgesundheitsministerium, oberste für Altenpflege zuständige Behörde, verteidigt dennoch die Arbeit der Heimaufsichten: „Missstände sind in jedem Einzelfall schlimm und bedauerlich. Dahinter stehen immer menschliche Schicksale. Ich gehe davon aus, dass die zuständigen Länder mit ihren Aufsichten Missständen nachgehen“, sagt Staatsekretär im Bundesministerium für Gesundheit Thomas Ilka. Wichtig sei, dass in den Einrichtungen Transparenz und hohe Qualitätsstandards herrschten, sagte Ilka.

Ein Zentralregister fehlt

Genau dies bezweifeln Branchenexperten jedoch. Kritik am derzeitigen Stand der Qualitätskontrolle in Heimen kommt auch aus der Koalition. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Pflegeexperte Willi Zylajew moniert, dass in Deutschland kein zentrales Register existiert, das erfasst, welcher Heimbetreiber wie oft auffällig geworden ist.

„Schwarze Schafe in der Altenpflegebranche müssen entschiedener als bisher gebrandmarkt werden“, sagt Zylajew. Eine solche Offenlegung, die Senioren auf der Suche nach einem Heimplatz Aufschluss über die Qualität des Betreibers geben könnte, existiert in Deutschland nach Auskunft des MDS aus Datenschutzgründen nicht.

Das Bundesgesundheitsministerium teilt auf Anfrage mit, ein weiteres Register müsse „erst unter Beweis stellen, dass der zusätzliche Aufwand gerechtfertigt ist“ und müsse „angesichts der knappen finanziellen und personellen Ressourcen sehr genau bedacht“ sein. Auch gebe bereits das Anfang 2010 erarbeitete Pflegenotensystem hinreichend Aufschluss über die Qualität einer Einrichtung. Dieses Pflegenotensystem gilt unter Branchenexperten jedoch als umstritten, da seine Aussagekraft über die medizinische Versorgung in Heimen begrenzt ist.

Pflegebedürftige oft Opfer von Gewalt

Der Alterswissenschaftler und Psychiater Rolf D. Hirsch von der Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter „Handeln statt Misshandeln“ schätzt, dass jeder fünfte Pflegebedürftige im Laufe seines Aufenthalts mindestens einmal Opfer von Gewalt werde. Dazu gehörten auch Schläge, häufiger aber Vernachlässigungen, verbale Einschüchterungen, das Verabreichen von Beruhigungsmitteln zur Ruhigstellung der Bewohner oder „Fixierungen“, also Fesselungen, im Bett oder Rollstuhl.

„Ein Großteil der Misshandlungen ist durch den Sparwahn in den Heimen strukturell vorgegeben. Der Personalmangel führt dazu, dass sowohl die Bewohner als auch die Pfleger seelisch verkümmern“, sagt Hirsch.

VdK-Präsidentin Mascher verweist allerdings darauf, dass in vielen Fällen nicht nur der Gewinndruck bei Altenheimbetreibern, sondern auch der Fachkräftemangel in der Altenpflege Ursache für unterschrittene Personalschlüssel seien. „Deshalb müssen primär die Bezahlung von Altenpflegern und ihre Bezahlung verbessert werden.“