Wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs haben selbst Kandidaten mit schlechten Noten Chancen auf einen Ausbildungsplatz: 6000 von 10.000 Stellen sind in Berlin noch offen.
Dem Lernen in der Schule konnte Kevin Pelzer nie viel abgewinnen. „Außer in Mathe und Deutsch war ich eigentlich nie sonderlich gut“, sagt der 21-Jährige aus Mahlsdorf. Nachdem er den Hauptschulabschluss mit der Note 3,6 bestanden hat, versuchte er noch den Realschulabschluss zu machen, um seine berufliche Perspektive zu verbessern. „Hat aber nicht geklappt.“ Seine Talente sieht Kevin Pelzer eher im praktischen Bereich.
Deshalb hat er sich 2008 bei fast 15 Berliner Unternehmen auf eine Ausbildungsstelle beworben. Mit Erfolg. Seit drei Jahren ist der blonde Mann mit den breiten Schultern bei der Kreuzberger Umzugsfirma Zapf, wird hier zur Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice, kurz FMKU genannt, ausgebildet. Jugendliche wie Kevin Pelzer, die kleine Holperer in ihrem Lebenslauf haben und bei Unternehmen vielleicht nicht die erste Wahl sind, haben jetzt gute Chancen auf eine Ausbildung.
„Wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs haben wir in diesem Jahr eine sehr gute Lage auf dem Markt“, sagt Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Berlin am Montag. Tatsächlich fehle es den Firmen sogar an qualifizierten und motivierten Bewerbern. „Die Unternehmen finden niemanden oder es mangelt an der Eignung.“ Die Probleme, Jugendliche zu finden, könnte für viele schwache Schüler eine große Chance sein.
Rückläufige Zahl der Schulabgänger
Von insgesamt rund 10.000 Ausbildungsstellen in Berlin seien kurz vor Ausbildungsbeginn im September noch 6000 Plätze offen. In Brandenburg sind von 13.000 Lehrstellen noch 6700 unbesetzt. Die Berliner Handwerkskammer meldet 420 offene Ausbildungsplätze.
Grund für den Bewerbermangel sind die rückläufigen Zahlen der Schulabgänger durch den demografischen Wandel. Gleichzeitig suchen Unternehmer und Handwerker wegen dem wirtschaftlichen Aufschwung verstärkt Nachwuchs. In diesem Jahr sind 1300 Ausbildungsplätze auf dem Markt, die es im vergangenen Jahr noch nicht gab.
Ausbilder müssen nun auch Jugendliche einstellen, die „nicht unbedingt dem Idealbild entsprechen“, sagt Eder. Eine Auswahl der Besten wie bis 2009, als es noch an Ausbildungsplätzen mangelte, sei nicht mehr möglich. Seit 2007 sank die Zahl der jährlich abgeschlossenen Lehrverträge vom über 13.000 auf knapp 11.000 „Auf den besseren Jugendlichen zu warten ist sinnlos“, so Eder.
Gemeinsam mit Margit Haupt-Koopmann, Regionaldirektorin der Berlin-Brandenburger Arbeitsagenturen, appelliert Eder an die Unternehmen, jungen Menschen eine Chance zu geben, selbst wenn sich ihre Talent nicht unmittelbar aus dem Zeugnis ablesen lassen. Sie sollten ihr herkömmliches Bild vom „perfekten“ Azubi lockern. „Wenn der Bewerber nicht fließend Deutsch kann, dann heißt das nicht, dass er nichts kann“, sagt Margit Haupt-Koopmann. Sie befürchtet, dass in den Betrieben Ausbildungsstellen frei bleiben könnten, weil es an geeigneten Anwärtern fehlt. Eine Bestenauslese, wie sie in Zeiten knapper Ausbildungsplätze üblich war, können sich die Betriebe bereits seit 2009 nicht mehr leisten.
„Plätze gibt es in allen Bereichen“, sagt Margit Haupt-Koopmann. Selbst in den Top-Ten der beliebtesten Ausbildungsberufe. Bankkaufmenschen, Mechatroniker, Köche, Elektroniker und Metallfacharbeiter suchten die Unternehmen händeringend. „Bewerbt euch jetzt, die Chance waren noch nie so gut“, rät Margit Haupt-Koopmann den Jugendlichen.
Kevin Pelzer steht mittlerweile kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung. Seine schriftliche Prüfung hat er vor wenigen Wochen absolviert, er hat ein gutes Gefühl, was die Noten angeht. „Ende gut, alles gut“ würde sein Ausbilder Steffen Pröhl sagen, wenn Kevin Pelzer tatsächlich mit guten Zensuren die Berufschule verlässt. Die hatte der Azubi nämlich nicht immer. „Deshalb hat mich das Unternehmen zur AbH angemeldet“, sagt Kevin Pelzer. AbH steht kurz für Ausbildungsbegleitende Hilfen, eine Maßnahme, mit denen schulisch schwache Lehrlinge unterstützt werden. 1,5 Millionen Euro jährlich geben die Arbeitsagenturen für Nachhilfe in Ausbildungsinhalten, Sprachnachhilfe in Deutsch, Prüfungsvorbereitung und Hilfestellung bei Alltagsproblemen. Weder für den Ausbildungsbetrieb noch für den Azubi entstehen dabei Kosten. Kevin Pelzer hat die Maßnahme geholfen – er ist so gut, dass er nun hoffen kann, vom Umzugsunternehmen Zapf in ein Angestelltenverhältnis übernommen zu werden.
Über 50 Prozent der jährlich rund 20 Auszubildenden werden in die Firma übernommen. „Eigentlich alle, die sich in der Ausbildung gut geschlagen haben“, meint Steffen Pröhl.
Viele Fachkräfte verlassen Berlin
Das ist nicht überall der Fall. „Eine ganze Reihe von Unternehmen bilden Überbedarf aus“, sagt Ulrich Wiegand, Geschäftsführer von der Handwerkskammer Berlin. Anders ginge es gar nicht, eine Reihe besonders kleinerer Betriebe könnten sonst nur alle vier bis fünf Jahre einen Lehrling einstellen. Die genaue Übernahmequote Berliner Firmen sei nicht bekannt. „Viele Fachkräfte ziehen jedoch nach der Ausbildung aus Berlin weg.“ Hier gebe es nicht ausreichend Industrie – anderswo schon. Da seien häufig auch Gehälter und Arbeitsbedingungen besser.
Im Moment sei die Abwanderung nicht besorgniserregend. Derzeit sind auf die 6000 Stellen bei den Jobcentern immerhin noch 8500 Suchende gemeldet. Verschlechtere sich jedoch die Bewerbersituation in Berlin weiter, dann nimmt der Fachkräftemangel an gut ausgebildetem Personal ebenfalls zu.
Die Direktorin der regionalen Arbeitsagenturen Haupt-Koopmann empfiehlt Unternehmen, Fachkräfte auszubilden und dann durch Festanstellung zu sichern.