Hamburg-Mannheimer

Ergo-Skandal - Wie ein Tag mit Sex-Sause abläuft

| Lesedauer: 15 Minuten
J. Eigendorf, P. Hedemann, S. Jost, L. Wiegelmann

Foto: picture-alliance / rolf kremming

Es ist üblich, Geschäftspartner mit käuflichem Sex zu binden: "Sex auf Firmenkosten ist in allen Branchen Alltag", so ein Insider. Wirtschaftsvertreter schildern, wie Ausflüge ins Rotlicht-Milieu organisiert werden.

Eigentlich war der Mann eher ein biederer Typ. Brav, manchmal sogar ein bisschen unsicher. Aber er war ein guter Kunde. Als hochrangiger Vertreter eines städtischen Verkehrsbetriebes war er für den Ankauf und die Instandhaltung von Schienen zuständig und entschied über Aufträge in Millionenhöhe. Es war wichtig, gut mit ihm klarzukommen. Also lud der Manager eines namhaften deutschen Stahlunternehmens ihn zu einem Werksbesuch mit anschließendem Dinner ein.

"Der Kunde war um die fünfzig und etwas steif", erinnert sich der deutsche Stahl-Manager, "aber beim Essen spürte ich, dass er irgendwie mal was erleben wollte." Also fuhr man nach dem Essen mit einer kleinen Gruppe von acht Kollegen in eine stadtbekannte Strip-Bar. In der ersten Stunde stand der Kunde schüchtern am Tresen und hielt sich an seinem Glas Champagner fest. Doch mit der Zeit wurde er munterer, irgendwann nickte sein Kopf zur Musik, seine Blicke auf die Mädchen wurden direkter.

Stahlfirma zahlt 1300 Euro

Und irgendwann stand er dann nur noch mit Socken bekleidet auf dem Tisch und schunkelte mit den Tänzerinnen. Exklusive Kundenbetreuung mit Sonderprogramm. Kostenpunkt für die Stahlfirma: 13.000 Euro für den ganzen Abend. Die Sache hat sich gelohnt, sagt der Manager, der die Sause damals geschmissen hat: "Wenn ich den Kunden heute wiedersehe, sagt er jedes Mal: ,Du hast mir den schönsten Abend meines Lebens organisiert.'"

Es ist keine zwielichtige Gestalt aus einem verruchten Milieu, die dieses Geschäftserlebnis zum Besten gibt. Der besagte Manager stammt aus dem Herzen des deutschen Wirtschaftslebens. Und er dürfte bei vielen Geschäftspartnern nicht einmal besonderes Aufsehen erregen.

Mag sich die Öffentlichkeit noch so sehr erregen über die schamlose Orgie, die der Versicherer Hamburg-Mannheimer für seine Vertreter in Budapest organisierte , mag sie es verabscheuen, dass Dutzende Vertriebler Schlange standen für intimsten Kontakt und die beteiligten Prostituierten nach jedem Akt abgestempelt wurden wie Vieh: Für nicht wenige Topmanager sind Erwachsenenvergnügungen gewöhnlicher Teil des Geschäftslebens.

Meist nicht in Form exzessiver Orgien, sondern in diskreterem Rahmen. Aber immer auf Firmenkosten - und dank fingierter, unvollständiger und vage formulierter Belege werden sie meist sogar abgesetzt. Das mindert den Gewinn und damit die Steuerlast. Die Staatskasse zahlt für die Triebe von Geschäftsführern, Chefeinkäufern oder Vertriebsleitern kräftig mit.

Das gemeinsame schlüpfrige Erlebnis - als die Hamburg Mannheimer vor vier Jahren ungefähr 70 ihrer erfolgreichsten Versicherungsvertreter nach Budapest einlud, schien gerade das ein, wenn nicht gar der zentrale Bestandteil der Motivationsreise zu sein. Schon nachmittags hat dem Vernehmen nach das erotisch geprägte Programm begonnen: Die Vertriebler gastierten auf einem Donau-Dampfer, als neben dem Schiff eine kleine Barkasse voller barbusiger Frauen auftauchte.

Die Damen warteten am Eingang

Ob es sich dabei bereits um Prostituierte handelte und wie intim die Kontakte zu den Vertretern hier wurden, ist nicht abschließend geklärt. Umso anzüglicher wurde es jedenfalls nach dem anschließenden Transfer in die eigens angemietete Gellert-Therme. "Jedem muss sofort beim Reinkommen klar gewesen sein, was da gespielt wird", berichtet ein Anwesender, der anonym bleiben will.

Mehr als ein Dutzend Damen soll sich direkt am Eingang höchst spärlich bekleidet präsentiert haben, wobei die Angaben zur Zahl der anwesenden Prostituierten schwanken: Die Ergo als Mutterkonzern der Hamburg-Mannheimer spricht von 20 professionellen Damen, der Zeuge will jedoch gut und gerne doppelt so viele gezählt haben.

Neben zwei Live-Bands und eigens aus Deutschland angelieferten Garküchen mit einer zweistelligen Zahl von Köchen ("Sogar die Tomaten wurden aus Deutschland angeliefert") hatte der Versicherer Berichten zufolge rund ein Dutzend Betten auf dem Gelände des Bades aufgebaut. "Und die reichten bei Weitem nicht aus", sagt ein Anwesender. Manche Vertreter hätten sich an den gepolsterten Spielwiesen angestellt, andere seien mit Prostituierten an andere Orte bis hin zu den Toiletten ausgewichen.

Eventagenturen werden eingespannt

Bei der Organisation hatte sich die Ergo die Hilfe von einem Veranstaltungs-Profi geholt. Nach Informationen der Morgenpost Online arrangierte die Event-Firma EMEC aus der kleinen Gemeinde Türkheim im Unterallgäu zumindest weite Teile der Reise, auch den Abend im Gellert-Bad.

Das Unternehmen organisiert verschiedenste Veranstaltungen, baut laut seiner Homepage Messestände auf oder liefert Catering und Bühnentechnik für ein Firmenjubiläum. Einer der beiden Geschäftsführer, Robert Ackermann, betreibt außerdem die bekannte Berliner Diskothek "Matrix".

Im Gespräch mit der Morgenpost Online bestätigt Ackermann sein Engagement für die Ergo bei der Budapest-Reise, will aber für die Verpflichtung der Prostituierten nicht verantwortlich sein: "Wir haben lediglich Flüge und Hotelzimmer gebucht und bei der Abendveranstaltung im Gellert-Bad für Deko, Catering, Musik und Lichttechnik gesorgt. Mit den Prostituierten, die im Gellert-Bad anwesend waren, hatten wir nichts zu tun." Ackermann räumt allerdings ein, dass er über deren Kommen informiert war.

Ergo äüßert sich nicht

Bis heute wisse er aber nicht, wer diesen Teil der Veranstaltung organisiert habe. "Vermutlich handelte es sich um lokale Dienstleister aus Ungarn", sagt er. Die Ergo will sich weder zum Namen der Agentur noch zu deren Leistungen äußern. Nach Angaben eines Sprechers ist noch nicht geklärt, wer genau für den Ablauf des Abends verantwortlich gewesen sei und ob neben der eigentlichen Eventagentur auch noch andere Dienstleister eingebunden waren. Dass die zuständigen Manager, die angeblich nicht mehr im Unternehmen arbeiten, wenig Interesse an umfassenden Auskünften haben, ist freilich nicht überraschend.

In einem sind sich die Ergo und Eventmanager Ackermann jedenfalls einig: Die Orgie von Budapest soll ein singuläres Ereignis gewesen sein, sowohl für den Versicherer als auch für die Agentur. "Ich habe eine vergleichbare Veranstaltung davor oder danach nie erlebt", sagt Ackermann. EMEC sei ein seriöser Anbieter : "Viele unserer Kunden sind bodenständige Mittelständler."

Allerdings: Hört man sich in der Unternehmenswelt um, kommt man schnell zum Schluss, dass auch vermeintlich noch so seriöse Unternehmen erotischen Dienstleistungen nicht abgeneigt sein müssen und sich Eventmanager nicht lange bitten lassen, diese auch im Ausland zu arrangieren. Zwar scheinen Massenveranstaltungen wie in Budapest tatsächlich eine Ausnahme zu sein. Doch in diskreterem Rahmen gibt es dafür umso häufiger Kontakt zu Prostituierten - so diskret freilich, dass die Geschäftsleute nur anonym darüber berichten wollen.

"Sex-Sausen auf Firmenkosten sind absoluter Alltag, in allen Branchen", berichtet ein Industriemanager. Hundert-, wenn nicht tausendfach passiere so etwas jeden Tag. Dabei bilden Anreize für freiberufliche Verkäufer, wie sie bei Finanzvertrieben gängig sind, nur einen wohl eher kleinen Teil des Spektrums. Besonders verbreitet sind erotische Abschweifungen offenbar dort, wo großvolumige Aufträge zu vergeben sind, etwa in der Bau- oder der Schwerindustrie.

Zwischenmenschliche Kundenpflege

"Mit dem Geschäftspartner abends noch auf Firmenkosten ins Bordell zu gehen, war vor 15 Jahren sicher noch üblicher als heute, passiert aber immer noch", bestätigt der Eventmanager eines Dax-Konzerns. Das Kalkül dabei ist zwischenmenschliche Kundenpflege. Auch bei Großaufträgen komme die Entscheidung oft aus dem Bauch heraus, sagt ein Manager: "Und wenn ein Kunde intime und aufregende Dinge gemeinsam mit mir erlebt hat, dann entsteht etwas zwischen uns."

Die Grundlage dafür wird oft kurzfristig arrangiert. Die typische Szenerie ist ein Geschäftsessen mit zwei, drei Kunden in einem gewöhnlichen Restaurant. Es gebe dann übliche Zeichen - subtile Andeutungen, ohne dass der Wunsch offen ausgesprochen werden muss. Irgendwann fragt einer der Kunden vielleicht, was man denn mit dem angefangenen Abend noch anstellen wolle.

"Dann weiß ich: Der will noch ein bisschen Spässken haben", sagt ein Industriemanager, der solche Situationen regelmäßig erlebt. Der Kunde schlägt möglicherweise noch vor, in eine Bar zu gehen. "Und er hofft, dass ich weiß, an welche Art von Bar er dabei denkt." Also wird ein Taxi gerufen, und es geht zu einem einschlägigen Etablissement. "Man trinkt und guckt, und wenn der Kunde will, geht er halt mit einer Dame aufs Zimmer." Bezahlt vom Geschäftspartner.

Inklusivleistungen des Hotels

Zu den mehr oder minder spontanen Bordellbesuchen kommt aber auch langfristig geplanter Sex im Dienst. "Am Rande einer Geschäftsreise oder einer Tagung kommt so etwas schon öfter vor", heißt es bei einem großen deutschen Konzern. Da reiche schon ein Hinweis an den Organisator, dass sich die anwesenden Herren abends ja nicht langweilen sollten. Manche Hoteliers böten Prostitution quasi als Inklusivleistung an, wenn sie im Gegenzug eine größere Veranstaltung ausrichten dürfen: "Da wird dann selbst in Fünf-Sterne-Hotels dafür gesorgt, dass sich entsprechende Damen in der Hotelbar aufhalten, die einen auf Kosten des Hauses aufs Zimmer begleiten."

Als Dorado für intime Dienste gelten außerdem Messen. Gerade bei solchen mit vorwiegend männlichem Publikum hat die Rotlichtszene der betreffenden Stadt traditionell Hochkonjunktur, Bordelle inserieren dann gerne großflächig in der lokalen Boulevardpresse oder bieten Sonderkonditionen. Zu diesen in der Regel privat bezahlten Vergnügungen kommen aber auch solche auf Firmenkosten. "Es ist gang und gäbe, sich bei solchen Anlässen Prostituierte ins Hotel bringen zu lassen", sagt einer, der bei solchen Gelegenheiten schon Fahrdienste übernommen hat.

Organisiert wird das Ganze in der Regel über eine Agentur oder einen Escortservice, sodass sich die konzerneigenen Eventmanager nicht selbst im Rotlichtmilieu umtun müssen. Selbst anwesende Frauen beim Geschäftstermin sind offenbar nicht unbedingt ein Hindernis: "Oft ziehen sie sich so gegen 23 Uhr auf ihr Zimmer zurück" - zumindest ahnend, was die männlichen Kollegen noch im Schilde führen.

Sexuelle Abenteuer auf Firmenkosten

Schätzt man einen Geschäftskunden als etwas zurückhaltender ein, kann es reizvoll sein, gekauften Sex als zufällig erscheinen zu lassen. "Da ruft man eben beim Escort-Service an und sagt: Es wäre schön, wenn die Betti um die und die Uhrzeit in der Hotelbar steht und meinen Kunden ein bisschen anflirtet", erzählt ein Industriemanager. Das müsse nicht zwingend mit Sex enden - manche Männer hätten für sich eine gewisse Grenze gezogen und wollten irgendwann nach Hause. "Aber die meisten wollen es" - selbst wenn sie Familie haben. "Ich habe noch nie erlebt, dass einer deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt hätte", sagt der Manager. "Faustregel: Je erfolgreicher einer ist, desto skrupelloser."

Das gilt offenbar auch für den Umgang mit Recht und Gesetz. Denn um das sexuelle Abenteuer wirklich über die Firmenkasse laufen lassen zu können, wird hinterher reichlich gemauschelt. Ob Prostitution oder Bordellbesuche steuerlich geltend gemacht werden können, ist in Deutschland nicht eindeutig gesetzlich geregelt. Zwar mag Kunden- oder Vertreterpflege grundsätzlich dem Betriebszweck dienen. Nach Paragraf 4 des Einkommensteuergesetzes muss das Finanzamt jedoch Betriebsausgaben nicht anerkennen, wenn diese "nach allgemeiner Verkehrsauffassung unangemessen" sind. Steuerrechtler sehen das bei Prostitution als gegeben an - doch die letzten höchstrichterlichen Urteile dazu liegen Jahrzehnte zurück.

Wahrer Charakter der Rechnung wird verschleiert

Die meisten Unternehmen gehen in dieser Frage erst gar kein unnötig großes Risiko ein. Sie gehen der Diskussion mit dem Finanzamt jedoch von vornherein aus dem Weg - indem sie den wahren Charakter der Aktivität verschleiern. "Natürlich lässt sich keine Firma Rechnungen ausstellen, wo 'Sabine, Mandy, Elke' oder so was draufsteht. Das wird kreativer gehandhabt", sagt ein Manager, der die intime Kundenbindung regelmäßig nutzt. Das Spektrum an Tricksereien ist groß. Im einfachsten Fall schreibt das Bordell auf die Quittung reine Gastronomieleistungen - 14 Flaschen Champagner oder einmal Hummer für alle.

Etablissements, die auf Anzugsträger spezialisiert sind, haben dafür oft eine Zweigniederlassung mit unverfänglichem Namen - damit die Rechnung nicht von der "Roten Flora" kommt, sondern von einer harmlosen "Erlebnis-Gastronomie GmbH". Und wenn ein Messebesucher eine Dame bucht, die ihren Dienst über mehrere Tage gegen 22 Uhr in seinem Hotelzimmer antritt, schreibt der Escortservice vielleicht eine Hostess mit vier Fremdsprachen auf die Rechnung - so lässt sich ein vierstelliger Preis pro Tag ganz ohne schlüpfrige Details rechtfertigen.

Eventagenturen kaschieren Rechnungen

Je höher die Rechnungen werden, desto schwieriger wird das Versteckspiel allerdings. Beliebte Helfer sind an dieser Stelle Eventagenturen. "Die bittet man dann, eine Rechnung für eine 'Eventgestaltung' oder etwas Ähnliches zu schreiben - entweder, weil die Agentur den Abend wirklich organisiert hat, oder weil man da Leute kennt und die einem halt eine falsche Rechnung schreiben", erzählt ein Kenner und Nutznießer solcher Praktiken.

So ähnlich scheint es auch im Falle der Ergo gelaufen zu sein. Nach Angaben eines Konzernsprechers gab es auf den vorliegenden Rechnungen für die Veranstaltung "keinen Posten Prostitution". Die Kosten von insgesamt 83.00 Euro für den Abend seien in voller Höhe als Betriebsausgaben steuerlich geltend gemacht worden. Mit dieser Praxis dürfte sich die Ergo zumindest in einer rechtlichen Grauzone befinden. "Nach unseren bisherigen Prüfungen war das steuerrechtlich in Ordnung", sagt der Sprecher. Man prüfe jedoch weiter, "ob man eine andere Beurteilung vornehmen kann und wie wir die Angelegenheit bereinigen können".

Die dreisteste aller Kaschierungsmethoden wählte indes der Stahlmanager, der seinen biederen Kunden ins Strip-Lokal einlud. Eine Rechnung für diesen Abend gab es nie. Einer der ebenfalls eingeladenen Geschäftspartner streckte die fälligen 13.000 Euro vor und verrechnete den Betrag mit anderen Rechnungen an die Stahlfirma - diese fielen dann eben etwas höher aus.

( Mitarbeit: Carsten Dierig )