Was als Fortbildung angekündigt war, ähnelt auf den verwackelten Bildern einer versteckten Reporter-Kamera eher einer Bunga-Bunga-Party: Gestandene Gynäkologen singen laut „Nuva-Ring, Ring, Ring“, dazu schwenken leicht bekleidete Tänzerinnen große Plastikringe.
Das Video hat in Estland einen handfesten Ärzte-Skandal ausgelöst, sollten die Gynäkologen auf der Veranstaltung im estnischen Tallinn doch nicht feiern – sondern über die Risiken des hormonbasierten Verhütungsmittels Nuvaring des US-Herstellers Merck & Co. aufgeklärt werden.
Auch in Kanada sind Gynäkologen der nationalen gynäkologischen Gesellschaft den Versuchungen der Pharmabranche erlegen: Beim Verfassen von Aufklärungsmaterial über die Verhütungspillen der neuesten Generation schrieben sie teils wortgleich Werbematerial des Herstellers Bayer ab, priesen die Pille als Mittel gegen Migräne und Akne. Dass ihre Gesellschaft mit Mitteln von Bayer gefördert wurde, vergaßen die Autoren jedoch zu erwähnen.
Beide Fälle werfen ein Schlaglicht auf die Kontrazeptiva-Marketingkampagnen der Pharma-Riesen. Die Hersteller lassen fast nichts unversucht, um die Verhütungsmittel als Lifestyle-Medikamente anzupreisen, und dabei Bedenken von Patientinnen wie Gynäkologen über mögliche Nebenwirkungen der Pillen der neuesten Generation zu zerstreuen.
Bayer wurde gar wegen irreführender Werbung in den USA schon verpflichtet, für 20 Millionen Dollar Korrektur-Anzeigen zu veröffentlichen. Fälle von Thrombosen werden als Einzelfälle abgetan, Medienberichte darüber teils mittels Klagen blockiert.
Milliardengeschäft mit Pillen
Denn die Kontrazeptiva sind ein sichereres, vor Regulierung und Sparzwängen geschütztes Milliardengeschäft, etwa sechs Millionen Frauen nehmen allein in Deutschland regelmäßig die Pille ein. Mit der Pille Yasmin sowie Ablegern wie Yasminelle oder Yaz machte Bayer Health Care im Geschäftsjahr 2010 gut 1,1 Milliarden Euro Umsatz.
Der US-Konzern Merck verbuchte mit seinem Scheiden-Suppositorium Nuvaring immerhin gut 400 Millionen Euro krisensichere Einnahmen – da lohnt sich ansprechendes Marketing. „Meiner ersten Probepackung der Pille lag ein kleiner Schminkspiegel bei, die Packung war mit rosa Blumen bedruckt. Da denkt doch niemand an lebensbedrohliche Nebenwirkungen“, erinnert sich Susan Tabbach.
Der 31-jährigen Innenarchitektin aus Aachen hatte ein Frauenarzt vor vier Jahren Bayers neueste, besonders niedrig dosierte Pille Yasminella verschrieben. Auch in den Jahren zuvor hatte Tabbach die Pille genommen, sie raucht nicht, ist schlank und sportlich, kurz gesagt: Tabbach trägt keines der Merkmale, die das Risiko für die gefürchtetste Pillen-Nebenwirkung Thrombose erhöht.
Risiko einer Embolie
Trotzdem löste sich vor gut zwei Jahren ein Gerinnsel in einem Blutgefäß, und verursachte eine lebensbedrohliche Embolie in Tabbachs Lunge. Nur mit einem Notfalleingriff wurde ihr Leben gerettet, doch bis heute leidet sie unter den Folgen.
Susan Tabbach ist kein Einzelfall, über 6800 Klagen von ähnlich betroffenen Patientinnen liegen aktuell in Sammelklagen gebündelt vor Gerichten in den USA, 190 Todesfälle assoziiert die US-Aufsichtsbehörde FDA bislang mit den Pillen von Bayer und zwei weiteren Herstellern.
Auch Merck wird beklagt, die Hersteller haben bereits milliardenschwere Rückstellungen für die Prozessrisiken in ihren Bilanzen abgebildet, die Zahl der Kläger hat sich seit Mitte 2010 in beiden Fällen mehr als verdreifacht.
Bayer setzt auf niedrige Dosierung
Doch bislang verneinen Bayer wie Merck den Verdacht, dass Yasmin und Nuvaring risikoreicher sind als andere, ältere Verhütungsmittel – im Gegenteil warb Bayer lange mit den niedrigeren Hormondosierungen seiner Pillen, viele Frauenärzte verschrieben die Pillen deswegen gerade Frauen mit erhöhten Risiken.
Einen Bericht des Schweizer Fernsehens über einen Fall und potenzielle Risiken der Pillen versuchte Bayer per Klage aus der Welt zu schaffen, und scheiterte vergangene Woche in letzter Instanz vor dem Schweizer Bundesgericht.
Nun droht Bayer auch vor US-Gerichten ein Rückschlag, denn in derselben Woche veröffentlichten Mediziner aus den USA und Neuseeland zwei Studien, in denen erstmals gesammelte Daten der britischen Gesundheitsbehörden untersucht wurden.
Das Ergebnis der Forscher: Verhütungspillen der neuesten Generation, die das künstliche Gestagen-Hormon Drospirenon enthalten, bringen ein um bis zu dreimal höheres Risiko von Thrombosen mit sich als vergleichbare, ältere Pillen.
Neue Studie der Boston University
Besonders fatal für Bayers Verteidigung vor Gericht: Die Forscher der angesehenen Boston University haben in ihrer Studie ausdrücklich Frauen mit Vorerkrankungen oder Risikofaktoren wie Übergewicht ausgeschlossen, um eine Verfälschung der Daten zu vermeiden.
Am Freitag wollen Susan Tabbach und drei Leidensgenossinnen ihre Fälle auf der Bayer-Hauptversammlung in Köln vortragen. Eine Vereinigung kritischer Bayer-Aktionäre hat ob der Pillen-Probleme gleich die Nichtentlastung des gesamten Vorstandes beantragt.
Das Ansinnen dürfte keinerlei Chancen haben, doch Tabbach will vor allem die Anteilseigner aufrütteln: „Es kann doch nicht sein, dass weiter Lifestyle-Werbung für potenziell lebensbedrohliche Medikamente gemacht wird.“