In China, ja, da sei alles möglich. Das erzählten ihre Freunde, als sie am Telefon von der erfolglosen Jobsuche in Barcelona berichtete. Über ein Jahr suchte Marta Miserachs einen Job als Innenarchitektin. Keine Chance: Wegen der Baukrise und der Architektenschwemme war in Spanien keine Stelle zu finden. „Irgendwann dachte ich, ich versuche es“, sagt die 25-Jährige: „Wenn es nicht klappt, dann kann ich wenigstens sagen: Sogar in China wollen sie mich nicht.“
Wider Erwarten wollte man sie, als sie vor drei Wochen in China ankam. Nach wenigen Tagen hatte sie einen Job bei einer chinesischen Firma in Tianjin, 140 Kilometer südöstlich von Peking. „Alle haben gesagt, in China sei so viel möglich. Jetzt sehe ich, dass das stimmt“, sagt Miserachs.
Die junge Frau ist mutig – wie viele in ihrem Alter, die zum Arbeiten nach China gehen. Oft direkt nach der Uni, mit null oder nur wenig Berufserfahrung, ohne Jobzusage, bevor sie ins Flugzeug steigen. Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 steigt die Zahl der Europäer, die nach China gehen, stetig an. Über 4500 Deutsche im Alter von 25 bis 29 Jahren zogen 2008 nach China, es ist die größte Gruppe unter den Europäern, die den Schritt wagen.
Auch die Zahl der Spanier, der Italiener und der Engländer wächst. Über 16.000 dauerhaft in China lebende Deutsche zählt die deutsche Botschaft in Peking, Tendenz steigend. „Wir leben im Zeitalter internationaler Karriereperspektiven“, sagt Oliver Koppel vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Jetzt gehen auch die Berufseinsteiger nach China“, sagt der Migrationsforscher.
Es ist der Wunsch nach internationaler Karriere, aber auch die fehlende Alternative, die Leute nach Fernost aufbrechen lässt. „Ich hatte keinen Job und nichts zu verlieren“, sagt Marta Miserachs. Alexander Grensing hatte zwar einen Job in Deutschland, sah dort aber keine Perspektive. Der heute 30-Jährige arbeitete als Werbekaufmann in Kiel.
Wunsch nach schnellem Aufstieg
Als seine Frau Eva-Charlotte Voigt mit ihrem Studium fertig wurde – Kunstgeschichte und Geographie – entschied sich das Paar, nach Shanghai zu gehen. „In Deutschland wartete nichts Tolles auf uns“, sagt Voigt. In Shanghai wohnten sie erst auf 30 Quadratmetern, mit einem Budget von nur 500 Euro im Monat. „Ich hatte eine Zusage für ein Praktikum, mehr nicht“, sagt Grensing.
Sein heutiger Arbeitgeber, eine Marketing-Agentur mit Hauptsitz in Deutschland, hat 70 Mitarbeiter in China. Nach zwei Monaten bekam er einen festen Vertrag, vom Assistenten wurde er schnell zum Account Director. Den Wunsch nach schnellem Aufstieg teilt Alexander Grensing mit vielen, die nach China gehen. „Wenn man bereit ist, bekommt man hier schneller die Möglichkeit, sich zu beweisen“, sagt Grensing. „Ich wäre heute nicht an der Stelle, an der ich jetzt bin, wenn ich in Deutschland geblieben wäre.“
Bei Isabel Cotchà Pagans war das ähnlich. Die 30-Jährige zog vor anderthalb Jahren mit ihrem Freund nach Hangzhou, 200 Kilometer südwestlich von Shanghai. Innerhalb von acht Tagen fanden beide einen Job bei einem chinesischen Architektenbüro. „Solche Bauprojekte, wie wir sie hier betreuen, hätten wir in Europa niemals bekommen. Das hätte man uns wegen des Alters nicht zugetraut“, sagt Cotchà Pagans.
Die Karrierebeschleunigung nennt auch Thorsten Nieberg, ein deutscher Doktorand von der University of Southern Queensland in Australien, als Hauptmotivation für die Jobsuche in Asien. „Es ist die Hoffnung, mehr Verantwortung zu bekommen als bei einer vergleichbaren Tätigkeit in Deutschland“, sagt Nieberg. Seine Dissertation ist eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die das Phänomen untersucht.
Während es in den vergangenen Jahren eher so war, dass westliche Firmen ihre Mitarbeiter als „Expats“ entsandten, wächst nun die Zahl der Europäer, die bei chinesischen Unternehmen arbeiten. So hat es zum Beispiel auch Eva-Charlotte Voigt, die Frau von Alexander Grensing, gemacht. Zuerst betreute sie für eine Biomarke das Marketing – als einzige Ausländerin. „Ich war das ‚foreign face’, das ausländische Gesicht“, sagt die 31-Jährige, die aus Tübingen stammt. Nach einem Jahr wechselte sie zu einem Street-Wear-Label. Wieder war sie die erste Mitarbeiterin aus dem Ausland.
„Chinesische Firmen stellen gerne Ausländer ein, für den kreativen Part“, sagt Voigt. Das ist in dem Architekturbüro, in dem Isabel Cotchà Pagans und ihr Freund Màrius arbeiten, auch so. „Wir machen die Entwürfe, die Chinesen rechnen“, sagt Cotchà Pagans.
Diese Arbeitsteilung ist in vielen Unternehmen üblich, weiß Binke Lenhardt, die seit 2002 in Peking lebt. „Bei mir machen prinzipiell alle alles“, sagt die Architektin, die inzwischen ein Unternehmen hat. Nur das Technische überlässt sie den chinesischen Mitarbeitern: „Ich weiß ja nicht, wie lang ein Fluchtweg in China sein muss.“ Lenhardt bekommt jedes Jahr mehr Bewerbungen aus Europa. „Inzwischen fliegt die Hälfte der Bewerber direkt hierher, um sich vorzustellen“, sagt die 40-Jährige.
Weniger Gehalt für schnelle Karriere
Vielfach sind die jungen Arbeitsuchenden bereit, im Gegenzug für eine schnelle Karriere weniger Gehalt hinzunehmen. Marta Miserachs etwa bekommt nur 2000 Yuan, etwa 210 Euro, als festes Monatsgehalt. „Der Rest geht über Leistungspauschalen und Boni“, sagt die 25-Jährige. Isabel Cotchà Pagans verdient als Architektin in Hangzhou etwa 2200 Euro im Monat. Auch Eva-Charlotte Voigt hat als Angestellte bei den chinesischen Unternehmen weniger verdient als in einer vergleichbaren Tätigkeit in Deutschland. „Wenn man sich mit einem lokalen Vertrag anstellen lässt, sind die Gehälter nicht so hoch“, sagt sie.
Die Zeit, da Arbeitgeber gerne Hunderttausende Euro pro Jahr in einen nach China entsandten Mitarbeiter investierten, gehe zu Ende, sagt Migrationsforscher Nieberg. „Die Unternehmen versuchen, die Leute mit lokalen Verträgen zu beschäftigen – egal, ob es Deutsche oder Chinesen sind.“ Da die Jungen oftmals nur über wenig Berufserfahrung verfügen, geht die Rechnung auf. Höhere Gehälter lassen sich als Westler eher mit einem Abschluss von einer renommierten Universität raushandeln.
„Die Chinesen stehen auf große Namen“, sagt Melanie Schmidt, die sich in Shenzhen mit einem Verlag selbstständig gemacht hat. „Mandarin Strokes“ entwickelt Lehrbücher für Deutsche, Engländer, Spanier und Franzosen, die Chinesisch lernen wollen.
Wegen der geringeren Gehälter bei chinesischen Arbeitgebern nimmt die Zahl der Europäer zu, die sich in China selbstständig machen. „Es ist sehr einfach als Existenzgründer. China ist daran interessiert, dass Firmen gegründet werden“, sagt Binke Lenhardt. „Ich treffe hier junge Leute aus der ganzen Welt, die kommen, um ihr Business zu eröffnen.“ Diese „Goldgräberstimmung“ beobachtet auch Reinhard Hill: Der 40-Jährige hat seit Jahren in Peking eine Consulting-Firma.
„Die Chinesen machen viel auf, aber auch viel wieder zu. Deshalb brauchen Sie als Europäer eine wirklich gute Geschäftsidee, damit Sie den Wettbewerb überstehen“, sagt er. Hill hat seine Lücke gefunden: Er berät mittelständische Firmen aus Deutschland, deren Budgets keine teuren Entsendungen erlauben. Chinesische Kunden hat Hill seltener: „Die Klienten mögen unsere Ideen, nicht aber unsere Rechnungen“, sagt der Unternehmer.
Kathrin von Rechenberg hat sich ebenfalls in Peking selbstständig gemacht. Die Münchnerin macht Haute Couture aus chinesischer Teeseide, einem Stoff, den sie nach einer jahrhundertealten Methode im Perlflussdelta färben lässt. Damit die Qualität stimmt, bildet von Rechenberg ihre Schneider selbst aus. „Viele, die sich hier selbstständig machen, sind Expats, die hier bleiben wollten“, sagt die 41-Jährige. Vor allem in kreativen Berufen gebe es viele selbstständige Europäer.
Dass sie in einem Polizeistaat leben, bereitet den Westlern nicht allzu große Sorgen. „Natürlich merke ich, dass es Zwänge gibt“, sagt Binke Lenhardt. Alle Entwürfe, die in China umgesetzt werden sollen, müssten von einem staatlichen Architekturbüro abgesegnet werden. Das empfindet sie aber nicht als Einschränkung ihrer Freiheit, sondern eher als interessante Herausforderung. „Wenn man sich nicht politisch äußert, lassen die einen in Ruhe“, sagt sie.
Weil viele Gebäude in wenigen Wochen hochgezogen werden, weil die Chinesen spektakuläre Architektur lieben und weil es an Geld nicht mangelt, fühlt sich Binke Lenhardt sogar freier als in Deutschland. Gleichzeitig sagt sie: „Natürlich weiß ich, dass hier Künstler verschwinden.“ Die politische Unfreiheit bereitet Eva-Charlotte Voigt und Alexander Grensing nur manchmal Probleme: „Wir sind alle zum Geschäftemachen hier. Die politische Dimension ist einfach geringer“, sagt Voigt.
Voigt spricht inzwischen ganz gut chinesisch. Ihr Mann ist dagegen über sein „Bar-und Taxi-Chinesisch“ nicht hinaus gekommen. „Ich habe es geschafft, mich ohne große Sprachkenntnisse zu etablieren“, sagt er. Heute bereut er das. Aber: „Irgendwann musste ich mich entscheiden: Lerne ich Chinesisch oder mache ich Karriere?“ Ehrlicherweise sagt Grensing aber auch: „Das geht heute nicht mehr. Ohne Chinesisch macht man hier keine Karriere.“ Isabel Cotchà Pagans hat vorher zumindest einige Monate lang einen Sprachkurs besucht. Natürlich fragen ihre Eltern öfter, wie lange sie denn bleiben will. Für immer? Für ein paar Jahre?
Cotchà Pagans weiß es noch nicht, auch Marta Miserachs macht sich noch keine Gedanken. „Vielleicht verliebe ich mich hier, wer weiß?“, sagt sie. Die, die schon länger da sind, wissen meist schon eine Antwort auf die Frage. „Wir würden gerne auch Arbeitserfahrung in Europa sammeln“, sagt Eva-Charlotte Voigt. Melanie Schmidt kann sich vorstellen, den Sitz ihres Verlages zu verlegen, sollte ihr neuestes Projekt, ein Online-Lernportal, scheitern.
„Chinesisch wird auch in Europa wichtiger, da ist auf jeden Fall Bedarf“, sagt sie. „Nach vier oder fünf Jahren sollte man sich Richtung Heimat orientieren, um den Anschluss nicht zu verpassen, wenn man nicht für immer bleiben will“, sagt Berater Hill. Kathrin von Rechenberg, die Modedesignerin aus München, wird erst mal in China bleiben. Es ist nicht mehr nur der Beruf, der sie im Reich der Mitte hält, sondern auch die Liebe: Sie ist mit einem Chinesen verheiratet und hat drei Kinder.