Stuttgart 21

Wie die Gewalt im Internet diskutiert wird

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Thomas Rietig

Foto: dpa

Der Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird zum virtuellen Ereignis. Per Twitter und YouTube verbreiten sich Bilder der Eskalation.

Wenige Meter neben dem Wasserwerferstrahl wird die Neuigkeit mit dem Handy ins Netz gestellt werden; aus der Baumkrone heraus findet das Video über die ersten Fällarbeiten in Sekundenbruchteilen seinen Weg in die virtuelle Welt. Der Protest gegen “Stuttgart 21“ ist schon lange nicht mehr nur eine Aneinanderreihung von Veranstaltungen im Schlossgarten oder am Bahnhofsvorplatz – es ist ein virtuelles Ereignis, an dem sich die Netz-Community lebhaft beteiligt. “Twitter-Trends“ meldete eine Verzwanzigfachung der Einträge (“Tweets“), als die Gewalt losbrach.

Am Abend waren für wenige Minuten sogar die Server “over capacity“, also überlastet. “S21“ ist der beliebteste Tweet in Deutschland, gefolgt von “stuttgart“, “cdu“, “popstars“, “stuttgart21“ und “rech“, ein Kapitel über den baden-württembergischen Innenministert Heribert Rech, an dem kaum jemand ein gutes Haar lässt. Der Satz “Das Internet vergisst nichts“ wurde bislang vornehmlich als Warnung bei der Diskussion um die informationelle Selbstbestimmung angebracht. Ihn sollten auch jene bedenken, die bei Ereignissen wie der Demonstration gegen den milliardenschweren Bahnhofsumbau Gewalt anwenden. Dokumentierte Gewalt kann nicht nur bei der nächsten Bewerbung hinderlich sein, sondern auch Straf- oder Disziplinarverfahren zur Folge haben.

Die Medienzeiten von Papier und Zelluloid in der Hand weniger Medienleute scheinen vorbei. Stand bei der Startbahn West oft genug noch Aussage gegen Aussage, wenn es später vor Gericht um Exzesse ging, so können Ermittler jetzt bei YouTube, bei Twitter, in sozialen Netzwerken und auch im ganz normalen Szene-Netz massenweise Dokumentationen der Abläufe finden. Die User berichten seit Donnerstag just-in-time von Tätern und Opfern, sie verlinken auf Live-Kameras. Sie stellen Filme von deutlich sichtbarer Polizeigewalt ins Netz, aber auch von fliegenden Gegenständen aus den Reihen der Demonstranten. “Alle Leute kennen jetzt die besagten Gesichter“, stellt ein Kommentierer bei YouTube fest. “Gute Kameraarbeit!“

Instrumentalisierung der sozialen Netzwerke

Während bei Twitter die weit überwiegende Mehrheit der Schreiber auf der Seite der Demonstranten zu stehen scheint, geben sich die Kommentare auf Youtube und den Medien-Seiten, zum Beispiel n-tv.de oder Morgenpost-Online.de, eher ausgewogen. Der Multiplikationseffekt wird gleichwohl gerne genutzt: “Hier prügeln Polizisten auf friedliche Demonstranten ein ... Bitte dieses Video weiterverbreiten“, wird da mit einem Link getwittert. In den Kommentaren versuchen es manche mit Sarkasmus: “Der Preis für die böseste Schlagzeile geht an die Financial Times Deutschland.“ Die titelte: “Die CDU zielt auf die Mitte“ über einem Wasserwerfereinsatz-Bild.

Politiker schalten sich mit der Ad-hoc-Meldung ein: “Unser Antrag für eine Debatte zur Gewalteskalation wurde abgelehnt“, zwitschert die Grünen-Fraktion im Bundestag am Freitag unmittelbar nach der entsprechenden Entscheidung des Ältestenrats in Berlin. Aber auch die Instrumentalisierung der sozialen Netzwerke ist schon Thema. So wird kritisiert, dass sich Parteien und Initiativen einschalten. Meist verweisen sie aber nur auf ihre eigenen Sites, ohne direkt Meinungen zu äußern.

Nicht nur daran ist zu erkennen, dass die eingestellten Tweets nur Informations-Rohstoff sind, der der Verifizierung bedarf. In einer am Donnerstagabend verbreiteten Meldung hieß es, eine Frau sei bei der Eskalation an einem Herzinfarkt gestorben. Polizei und Innenministerium dementierten. Umgekehrt beeilte sich das Innenministerium nicht gerade bei der Zurücknahme der eigenen Behauptung, Schüler und Jugendliche hätten Polizeibeamte mit Pflastersteinen beworfen. Das kleinlaute Statement der Sprecherin: “Da sind wir falsch informiert worden“, kam erst nach der Tagesschau. Am Freitag schrumpften die Wurfgegenstände zu Kastanien.

Für den Abend wurde wie schon am Vortag bundesweit zu Mahnwachen, Solidaritätsdemonstrationen und ähnlichem aufgerufen: In Düsseldorf, Gelsenkirchen, Jena, Nürnberg, Koblenz, Magdeburg, Erfurt und anderswo. Aber die oft gehörte These, das Web mache klassische Medien überflüssig, widerlegte die Netzgemeinde gleich selber: “Der Termin heute abend wurde auf 20 Uhr vorverlegt!! Damit die Presse noch berichten kann!!!“ Die Anonymität erlaubt in vielen Fällen auch hanebüchene Statements: “Boykottiert Stuttgart!“, schreibt da eine/r, und fügt hinzu, dass er/sie künftig nicht mehr Mercedes kaufen (weil aus Stuttgart), geschweige denn Bahn fahren wird.

( dapd )