Als Angela Rogalla kürzlich ihren Vertrag im Fitnessstudio verlängern will, nimmt sie ihn mit nach Hause. Sie holt die Lupe raus und prüft das Kleingedruckte mit der Lupe. Wort für Wort, Zeile für Zeile. Angela Rogalla ist 67 Jahre alt, Rentnerin aus Berlin. Sie hat Angst, Dokumente zu unterschreiben. Denn ihre Unterschrift hat sie schon einmal 15.300 Euro gekostet.
Es war im Mai 2007, als sie in einer Filiale der Citibank ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzte und damit Zertifikate der amerikanischen Bank Lehman Brothers erwarb. Als Lehman im September 2008 Pleite ging, verschwand ein Großteil ihres Ersparten. Betreutes Wohnen und später einen Platz im Pflegeheim sollte ihr das Geld ermöglichen. „Ich hatte immer Angst vor Altersarmut“, sagt sie.
Nun muss sie bangen, wie zahlreiche andere Rentner in Deutschland. Insgesamt 40.000 Kleinanleger haben durch den Konkurs von Lehman Brothers rund eine Milliarde Euro verloren. Viele von ihnen sind Ruheständler. Vor allem von Citibank, Dresdner Bank, der Frankfurter und Hamburger Sparkasse wurden ihnen die Zertifikate verkauft. Den Finanzhäusern werfen sie falsche Beratung vor. Doch den Lehman-Opfern läuft die Zeit davon. Nach drei Jahren endet die Verjährungsfrist für Anlagegeschäfte. Wollen sie Geld zurückfordern, müssen sie dieses Jahr noch ihre Rechtsansprüche durchsetzen. Sonst ist das Geld weg, für immer.
Angela Rogallas Welt ist noch in Ordnung, als sie von ihrem Citibank-Berater angerufen wird. Wenige Tage nach der Lehman-Pleite vom 15. September 2008 meldete er sich. Sie sei auch betroffen, sagt er. „Was heißt betroffen?“, fragte Angela Rogalla. Sie hatte die gefeuerten New Yorker Banker im Fernsehen ihre Schreibtische räumen sehen – beunruhigt hatte es sie nicht. „Ich habe zunächst überhaupt nicht verstanden, was er meinte“, sagte sie. Alle Papiere, die sie von der Citibank bekommen hat, hatte sie akkurat abgeheftet, doch gelesen hatte sie die Unterlagen nicht. Zumindest nicht im Detail. Dass sie ihr Geld verlieren könnte, war ihr nicht bewusst.
„In diesem Jahr gibt es definitiv eine Klagewelle“, sagt Sven Tintemann. Er ist Rechtsanwalt und vertritt Lehman-Opfer in Berlin. „Das Problem ist, dass der Kläger in der Beweispflicht ist, sie müssen per Urkunde nachweisen können, dass sie konservative Anleger sind oder einen Zeugen benennen können, der bei der Beratung dabei war.“ Einfach ist das nicht.
In Deutschland haben Richter bislang eher im Sinne der Kläger entschieden. Vor allem das Bundesverfassungsgericht hat in den vergangenen Jahren mit mehreren Urteilen die Rechte der Kleinanleger gestärkt. Dennoch bleiben die Urteile Einzelfallentscheidungen – und da in Deutschland keine Sammelklagen möglich sind, trägt jeder Kläger das Risiko selbst.
Ein Prozess bringt das Kostenrisiko mit sich, wenn keine Rechtsschutzversicherung besteht. Außerdem kann sich eine Klage im schlimmsten Fall über mehrere Jahre hinziehen. „Das ist auch eine enorme psychische Belastung“, sagt Anwalt Tintemann. Angela Rogalla bleiben noch drei Monate, bis ihre Verjährungsfrist ausläuft.
„Ich möchte mich damit nicht beschäftigen“, hat sie ihrem Bankberater gesagt. Sie bräuchte Unterlagen nicht im Detail lesen, habe er sie stets beruhigt. Ihre Unterschrift genügte. Vor jeder Unterschrift stellte Angela Rogalla ihm ihre Routinefrage: „Ist die Anlage auch wirklich sicher?“ Die Antwort sei jedes Mal ein klares „ja“ gewesen.
Als Angela Rogalla 2004 ihr erstes Festgeld bei der Citibank anlegte, bekam sie ein Risikoprofil verpasst. Auf Stufe Eins von fünf möglichen sortierten die Berater sie ein. Rogalla war demnach eine Anlegerin, die auf einen langfristigen und konservativen Vermögensaufbau setzt. Nach dem Verlust lernte sie: Innerhalb von drei Jahren ist sie bis in Gruppe vier aufgestiegen. Sie war eine Anlegerin, die an einem „spekulativem Vermögensaufbau“ interessiert ist.
„Viele ältere Verbraucher sind aus ihren sicheren Anlagen heraus gequatscht worden“, sagt Peter Lischke von der Verbraucherzentrale Berlin. Für solche Einzelfälle würden individuelle Lösungen gefunden, entgegnet Citibank-Sprecher Ingo Stader. Jedoch: „Eine systematische Falschberatung hat es nicht gegeben.“ In Absprache mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen hat die Citibank im Mai 2009 ihren Anlegern das Angebot gemacht, „sozialen Härtefällen“ zwischen 20 und 80 Prozent ihrer Verluste zu ersetzen. Es ist freiwillig, keine Entschädigung.
Angela Rogalla hofft noch immer, das Geld ersetzt zu bekommen. Sie hat sich einem Stammtisch der Lehmann-Geschädigten in Berlin angeschlossen. Derlei Stammtische gibt es bundesweit. Sie machen wöchentlich Protestmärsche. Auch Angela Rogalla marschiert mit. Aber sie weiß noch immer nicht, ob sie nun klagen soll. Eine Rechtsschutzversicherung hat sie nicht. Bei einem Prozess trüge sie das gesamte Kostenrisiko. Immerhin wäre es diesmal ein Risiko, das sie ganz bewusst einginge.