Glienicke/Berlin. Anja Cent pflegt ihren Mann Dieter Panther. 2005 blieb sein Herz stehen. Seitdem hat er einen schweren Hirnschaden.
Es gibt Daten im Leben, die man niemals vergisst, die man selbst frühmorgens beim Aufwachen sofort parat hat. Für manche sind es die Geburtstage der Kinder, für andere der Hochzeitstag. Für Anja Cent ist es der 18. Juli 2005, der Tag, der ihr Leben und das ihres Mannes auf den Kopf stellte.
An jenem Tag fiel Dieter Panther um, einfach so. Herzstillstand, Koma. Dieter Panther war der erste Berliner, der mit einem Laien-Defibrillator zurück ins Leben geholt wurde. Doch er zahlte einen hohen Preis. Ein Hirnschaden, hervorgerufen durch den Sauerstoffmangel, hat ihn stark verändert.
„Die Ärzte hatten ihn schon fast aufgegeben“
„Die Ärzte hatten ihn schon fast aufgegeben. Aber er wurde wieder. Doch ihm fehlte danach das Gedächtnis von ungefähr 15 Jahren“, erzählt Anja Cent. Inzwischen komme noch die weitere Zeit hinzu, für die sein Kurzzeitgedächtnis nicht vorhanden sei.
„Er hat Orientierung nur noch aus der Vergangenheit, und sein Lebenswille ist beeinträchtigt. Er hat keinen eigenen Antrieb, weder zum Essen noch zum Trinken oder zur Körperpflege. Er kann noch laufen, aber er ist schnell erschöpft. Deshalb benutzen wir oft den Rollstuhl. Er ist auch inkontinent“, schildert sie das Befinden ihres Mannes. Die Konsequenz: „Ich bestimme immer sein Leben. Ich sage, trink ‘was, iss ‘was, geh ins Bett und frage ihn, ob er auf die Toilette muss.“
Fünf Tage pro Woche zur Arbeit
Das Paar lebt in Glienicke, gleich hinter der Berliner Stadtgrenze, in einer gemütlichen Mietwohnung, erste Etage. Die Treppe schafft der 65-Jährige. Das ist sehr wichtig, sonst wäre das Netzwerk seiner Pflege in dieser Form nicht möglich.
Anja Cent ist berufstätig. Von Montag bis Freitag fährt sie täglich rund eine Stunde mit dem Auto nach Friedrichshain, wo sie in einer großen Kanzlei als Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte arbeitet. Vor eineinhalb Jahren verkürzte sie ihre Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden, denn am 17. September 2017 erlitt Dieter Panther seinen zweiten Herzinfarkt. Auch dieses Datum hat sich ihr eingebrannt.
Jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen
Sie steht morgens um 5 Uhr auf, geht ins Bad, danach bereitet sie das Frühstück. Um 6.15 Uhr kommt eine Pflegekraft und wäscht ihren Mann. Um 6.30 Uhr gibt es Frühstück, um 7.15 Uhr wird Dieter Panther abgeholt und zur Tagespflege gebracht. Anja Cent verlässt spätestens um 8 Uhr das Haus. Wenn die Staus nicht allzu schlimm sind, ist sie um 9 Uhr im Büro. Sie arbeitet bis 15 Uhr, meist ist sie gegen vier, halb fünf wieder zu Hause.
Meist ist Dieter Panther dann schon da. Der Fahrdienst der Tagespflege begleitet ihn in die Wohnung, zieht ihm seine Schuhe aus, setzt ihn aufs Sofa und schaltet ihm den Fernseher an.
Auf die Tagespflege lässt sie nichts kommen
„Die Tagespflege muss funktionieren, und das tut sie auch“, betont Anja Cent. Seit 13 Jahren geht ihr Mann in die Einrichtung der Stephanus-Stiftung in Bergfelde, mit der sie sehr zufrieden sind. „Da lasse ich nichts drauf kommen. Dort werden die Menschen nicht nur versorgt, sondern auch beschäftigt und gut betreut“, sagt die 57-Jährige.
Auch den Pflegedienst, ebenfalls von der Stephanus-Stiftung, lobt sie. „Die Pflegedienstleitung ist sehr nett, die Abstimmung mit der Tagespflege klappt gut. Es kommt auch immer dieselbe Pflegerin, außer wenn sie einen freien Tag hat. Wir hatten zunächst einen anderen Pflegedienst, aus Berlin, aber das funktionierte nicht. Die hatten eine schlechte Arbeitsorganisation, und der Frust der Mitarbeiter kam bei uns an.“
Eigentlich müsste sie mehr arbeiten
Anja Cent möchte bis 63 arbeiten, die Renten-Abschläge nimmt sie in Kauf. Aber gemessen an dem, wieviel im Büro zu tun ist, müsste sie eigentlich mehr arbeiten als 30 Stunden, sagt sie. Und auch das belastet sie.
Vor drei Jahren wurde sie selbst krank, die hohen Belastungen forderten ihren Tribut. Seitdem hat sie zu hohen Blutdruck, muss Medikamente nehmen. „Ich bin seit drei Jahren eine Baustelle. Aber meine Chefs unterstützen mich, auch meine Kollegen sind verständnisvoll“, sagt sie.
Finanziell kommen sie zurecht
Die Pflegeleistungen für Dieter Panther sind durch die Kasse abgedeckt, bei der Tagespflege muss das Paar einen Eigenanteil zahlen. Der soll in diesem Jahr von rund 330 auf etwa 516 Euro im Monat erhöht werden, vor allem wegen Tariferhöhungen für die Pflegekräfte: „Wir können uns die Preissteigerung gottlob leisten. Und wenn das irgendwann nicht mehr so ist, bleibe ich eben zu Hause und pflege ihn“, sagt Anja Cent.
Bislang reiche seine Rente „Wir kommen zurecht. Bis vor zwei Jahren sind wir noch zweimal im Jahr verreist, das machen wir jetzt nicht mehr, aber nicht wegen des Geldes, sondern weil es mein Mann gesundheitlich nicht mehr kann.“
Gemeinsam vor dem Fernseher
Die meisten Abende verbringt das Paar gemeinsam: „Um 18 Uhr essen wir Abendbrot, danach sehen wir fern. Ich gehe gegen 22 Uhr ins Bett. Früher ist mein Mann oft schon um 20 Uhr schlafen gegangen, dann hatte ich noch etwas Zeit für mich. Heute will er bei mir sein und mit mir gemeinsam zu Bett gehen.“
Lesen kann Dieter Panther so gut wie nicht mehr – die Augen. Mal ein Spaziergang? „Das ist schwierig. Er kann nur noch kurze Strecken laufen, erstens wegen des Herzens und zweitens ist seine Muskulatur geschwächt. Am Wochenende schaffen wir es oft auch gar nicht. Wir machen dann eher Ausflüge mit dem Auto.“ Am Wochenende stehen für Anja Cent schließlich auch noch Einkäufe, Wäsche und Hausarbeit an. Und dann möchte Sie auch einmal nicht um fünf Uhr aufstehen.
Kleine Auszeiten sind wichtig
Wichtig sind ihr auch ihre kleinen Auszeiten, einmal in der Woche geht sie zur Wassergymnastik, dreizehnmal im Jahr mit Schwester und Mutter in die Philharmonie, da haben sie ein Abo. Dann kommt ein ehrenamtlicher Betreuer vom Märkischen Sozialverein zu ihrem Mann, manchmal auch eine Freundin. Anfang September wird sie beim Konzert von Herbert Grönemeyer in der Waldbühne dabei sein, darauf freut sie sich jetzt schon.
Sie ist seit vielen Jahren Sprecherin einer Selbsthilfegruppe für Schlaganfallpatienten, neuerdings besucht sie zusätzlich einmal im Monat eine Gruppe für berufstätige pflegende Angehörige, bei der „Kontaktstelle Pflege-Engagement“ Charlottenburg-Wilmersdorf und sie ist aktiv im Verein „Wir pflegen“.
Die Mutter ist blind, sitzt im Rollstuhl
Dabei muss sie auch regelmäßig nach ihrer Mutter sehen, die in Tiergarten wohnt. Die Mutter ist blind und sitzt im Rollstuhl. Vor allem Anja Cents Schwester kümmert sich um sie, aber wenn die Schwester mal nicht kann, übernimmt sie das auch noch.
Etwas anderes, als ihren Mann zu Hause zu pflegen, kommt für Anja Cent nicht in Frage. „Er kam im Januar 2006 in ein Heim in Kreuzberg. Ich habe versucht, ihn dort rauszuholen, weil er immerzu weglief. Dann habe ich erfahren, dass im Pflegegutachten steht, ich sei nicht in der Lage, ihn zu pflegen. Das hat mir aber niemand gesagt, ich war auch nicht dabei, als das Gutachten erstellt wurde.“
Zunächst durfte sie ihren Mann nur „auf Probe“ pflegen
Gemeinsam kämpfte sie mit der Heimleitung und einer Patientenbetreuerin dagegen an, durfte ihn im September 2006 vier Wochen „auf Probe“ pflegen. Im Oktober jenes Jahres konnte sie ihn schließlich nach Hause holen. „Im Heim würde er nicht mehr leben“, ist sie überzeugt.
Seit zehn Jahren sei er nicht mehr weggelaufen aus der Tagespflege, nur zweimal aus einer Kurzzeitpflege. Solch eine Kurzzeitpflege haben sie früher ab und an genutzt. Dann hatte Anja Cent ein paar freie Tage. Oft ist sie gar nicht verreist, einfach mal ausschlafen... Mehr als zehn Jahre konnten sie es so machen. Seit zwei Jahren geht es nicht mehr. In einer guten Kurzzeitpflege in Reinickendorf bekommen sie keinen Platz, mit anderen haben sie keine guten Erfahrungen gemacht. Dann besteht die Gefahr, dass Dieter Panther wieder wegläuft.
„Er war ein Tausendsassa“
Bis zu seinem ersten Herzinfarkt hat der gelernte Schlosser bei Siemens gearbeitet. 36 Jahre lang. Er war in der Werkstatt eines Schaltwerks beschäftigt, hat auch neue Maschinen mit aufgebaut, war am Einkauf beteiligt, hat Kataloge erstellt. „Er war ein typischer Tausendsassa. Er hatte im Beruf und auch privat viele gute Ideen und hat viel selbst gebaut“, erzählt Anja Cent. In seiner Freizeit war er Wasserretter. Seit 28 Jahren sind sie zusammen.
Und heute? „Es tut weh, ihn so zu sehen, und dass es die Selbstständigkeit von früher nicht mehr gibt“, sagt Anja Cent. „Es ist schwer, zu erleben, wie sich das Wesen eines Menschen verändert.“ Ihrem Mann gehe es nicht gut. „Wir haben früher ganz anders gelebt. Er hat gesagt, das habe ich nicht gewollt.“ Immerhin, er hätte durch den Hirnschaden auch aggressiv werden können.
„Ich will nicht klagen“
„Ich will nicht klagen“, betont sie. Aber Kritik am Pflegesystem übt sie durchaus. Zum Beispiel, dass sie Urlaub nehmen muss, wenn ihr Mann akut krank ist. Es gibt für pflegende Angehörige keine Krankheitstage wie bei Eltern, deren Kind krank ist. Solche Krankheitstage für pflegende Angehörige fordert sie schon seit Jahren, wie auch der Verein „Wir pflegen“.
Sie will zudem, dass die Arbeit pflegender Angehöriger gesellschaftlich als Arbeit akzeptiert, vernünftig vergütet und auch stärker bei der späteren Rente berücksichtigt wird. „Wenn ich heute aufhören würde zu arbeiten um nur noch meinen Mann zu pflegen, wäre das ein großer Verlust bei meiner Rente“, sagt sie.
Den großen finanziellen Unterschied zwischen dem Pflegegeld, das Pflegebedürftige von der Pflegeversicherung erhalten, und den Summen, die ein ambulanter Pflegedienst bekommt, sieht sie nicht ein. „Man muss das Finanzierungssystem vollständig überdenken“, sagt sie. Auch die Eigenanteile in Pflegeheimen seien zu hoch. „Bei immer mehr Leuten zahlt die Mehrkosten das Sozialamt. Das ist alles Unsinn.“ Sie ist aber auch der Überzeugung, die Menschen sollten sich mehr privat gegen das Pflegerisiko absichern.