Berlin . Seit einem Unfall ist die ehemalige Turnerin Elisa Chirino querschnittgelähmt. Sie hat sich zurück ins Leben gekämpft – in ein anderes.
Elisa Chirinos lange dunkle Haare fallen auf ihren petrolblauen Pullover. In ihrem Milchkaffee steckt ein Strohhalm. Den reicht ihr ihre Mutter Heike immer wieder an den Mund, damit sie trinken kann. Allein kommt sie nicht heran. Die 21-Jährige wirkt ein wenig erschöpft. Es ist später Nachmittag. Ein langer Therapietag im Marzahner Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) liegt hinter ihr.
„Im Großen und Ganzen geht es mir heute ganz okay“, sagt sie und lächelt kurz. Sie habe mit Schmerzen und den üblichen gesundheitlichen Problemen einer Querschnittlähmung zu kämpfen und zuletzt wieder häufiger ins Krankenhaus gemusst. Es sind kleine Rückschläge in einem Kampf zurück ins Leben – ein neues Leben.
Einst Berliner Nachwuchshoffnung im Kunstturnen
Bis zu ihrem Unfall galt Elisa Chirino als Berliner Nachwuchshoffnung im Kunstturnen. Im Jahr 2010 wurde sie Deutsche Jugendmeisterin im Sprung. Bei ihrer ersten Deutschen Meisterschaft holte sie 2013 Bronze. Ihre Chancen auf die Teilnahme an den Europameisterschaft 2016 waren hoch. Sie träumte von Olympia.
Es gab manchmal blaue Flecken, Sportkameradinnen erlitten hin und wieder Kreuzbandrisse. „Ich hab aber nie daran gedacht, dass so etwas Schlimmes passieren kann“, sagt Chirino. Mit ruhiger Stimme erzählt sie von jenem 25. März 2014 und von dem Moment, der ihr Leben für immer veränderte.
Das Unglück geschah bei der letzten Übung
„Es war ein Dienstag, oder?“ Mutter Heike bejaht. Zunächst ein normaler Tag im Leben der damals 16-Jährigen: Ab halb acht Uhr morgens zwei Stunden Frühtraining, dann Schule, am Nachmittag wieder Training. Schließlich galt es, eine Kür am Stufenbarren zu turnen. „Es sollte die letzte Übung sein und dort bin ich beim Abgang unglücklich auf den Kopf gestürzt und...“ Elisa Chirino hält kurz inne, „... und lag dann da, konnte sofort meine Beine nicht mehr fühlen und mich nicht mehr bewegen.“ Panik!
Sie spürte noch, wie ihr eine Trainingskameradin die Handschuhe auszog. Sie sah, wie die Finger ihrer rechten Hand ein letztes Mal zuckten. Bewegen kann sie sie heute nicht mehr. Elisa Chirino brach sich den vierten und fünften Halswirbel und musste sofort notoperiert werden. Die Diagnose kam schnell. Sie zu realisieren, habe aber lange gedauert.
„Die Ärzte haben schon ziemlich deutlich gesagt, dass ich querschnittgelähmt bin.“ So etwas wolle man aber nicht wahrhaben. Man wolle sich noch dagegen wehren. Erst nach Wochen habe sie richtig begreifen können, dass sie nie wieder laufen können wird. Chirino ist vom Hals abwärts gelähmt und kann ihre Arme nur sehr eingeschränkt bewegen.
Pflegedienst kümmert sich Tag und Nacht
Mehr als eineinhalb Jahre lag die junge Frau im Unfallkrankenhaus Berlin. Ende 2015 wurde sie entlassen und zog nach Lichtenberg in eine eigene Wohnung, die vorher rollstuhlgerecht umgebaut wurde. Die ehemalige Turnerin ist rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen. Hin und wieder übernehmen das ihre Mutter, ihr Vater oder eine ihrer beiden älteren Schwestern. Zumeist kommt aber ein Pflegedienst. Die Schichten dauern zwölf Stunden. Bei Bedarf können sich die Pflegekräfte in ein Extrazimmer der Wohnung zurückziehen.
Die junge Frau hatte Glück im Unglück. Da sich ihr Unfall im Unterricht an einer Sportschule ereignete, werde er als Berufsunfall gewertet, erklärt sie. Ihre Unfallkasse übernehme die vollen Pflegekosten. Mit den Pflegekräften käme sie gut klar. Immer einfach sei der Alltag aber nicht. Denn Dinge, die vorher selbstverständlich waren, sind nun nicht mehr ohne Weiteres möglich. Was bleibt, sind Worte. Was manchmal fehlt, sei Geduld. „Man hat gewisse Wünsche, möchte etwa die Haare auf eine bestimmte Art und Weise gemacht bekommen, aber das Gegenüber versteht es nicht“, erklärt Elisa Chirino ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Sie erläutert es dann mehrfach, denkt sich „könnte ich es nur selbst machen“ – und gibt schließlich irgendwann auf.
„Ich fühle mich oft ausgegrenzt“
Einschränkungen gibt es überall, etwa wenn der Aufzug an der U-Bahn kaputt ist, wenn sie mit dem Rollstuhl über Pflastersteine fährt und durch die Erschütterung Schmerzen im Nacken bekommt, sie nicht in Cafés oder Restaurants kann, weil die nicht barrierefrei sind, zu festen Zeiten auf die Toilette muss.
„Wenn ich mit Freunden oder meiner Familie unterwegs bin, fühle ich mich oft ausgegrenzt“, sagt sie und nennt als Beispiel einen Besuch auf dem Fernsehturm. Da aus Brandschutzgründen im Notfall nur die Treppe benutzt werden darf, können Rollstuhlfahrer dort nicht hoch.
Nach dem Abitur will Chirino studieren
„Nur weil man in dieser Situation ist, kann man aus seinem Leben aber trotzdem etwas machen“, ist Chirino überzeugt. Die 21-Jährige wirkt ernst und entschlossen. Von 2016 an ging sie wieder in die Schule, zunächst stundenweise, dann mehrere Tage pro Woche. Zur zwölften Klasse stieg sie vollständig in den Unterricht ein. Mittlerweile hat sie das Abitur gemacht. Ab dem kommenden Herbstsemester will sie studieren – vorzugsweise Sportpsychologie. „Ich hab gute Voraussetzungen durch meine Erfahrungen im Sport.“ Der Bereich interessiere sie. Das traue sie sich zu.
Von der Zielstrebigkeit ihres alten Lebens scheint sie nichts eingebüßt zu haben. Mit zwei Jahren folgte sie dem Vorbild ihrer elf Jahre älteren Schwester und begann mit dem Turnen. Mit sieben Jahren wurde ihr Talent entdeckt und sie an einer Sportschule eingeschult. Sie bereue nicht, dass sie mit dem Sport angefangen hat. „Dafür kann ja die Sportart nichts. Ich finde sie nach wie vor schön – diese Mischung aus Dynamik, Kraft und Eleganz.“ Noch heute schaue sie gerne zu. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro habe sie mit ihren ehemaligen Vereins- und Wettkampfkameradinnen mitgefiebert.
„Was ich mir vornehme, packe ich auch an“
Wäre es anders gelaufen – hätte sie dort gestanden? Wie weit wäre sie gekommen? Was wäre, wenn? Fragen wie diese kämen ihr oft in den Sinn, bekennt Elisa Chirino. „Es macht aber keinen Sinn, weil es einem mehr weh tut, weil man es ohnehin nicht ändern oder zurückholen kann – es bringt einen nicht weiter.“ Ja, sie hadere hin und wieder mit ihrem Schicksal. In das wachse man rein, meistere bestimmte Aufgaben, „aber so richtig akzeptieren kann ich es irgendwie trotzdem nicht“.
Sie sei aber kein Mensch, der sich deshalb zu Hause verstecken will, im Gegenteil. „Früher als Leistungssportlerin hat man das Leben ein bisschen hintangestellt, weil es meist nur um Training und um die Schule ging.“ Jetzt sehe sie, was es noch alles gibt. Sie gehe gern ins Kino, auf Konzerte, hin und wieder in die Diskothek oder einfach raus in die Sonne, verbringe Zeit mit Freunden oder ihren Schwestern. Sie habe kleinere Dinge und das Leben insgesamt mehr zu schätzen und zu lieben gelernt, sagt sie. „Und was ich mir vornehme, packe ich auch an.“ Vor dem Studium will sie sich noch einen jahrelangen Traum erfüllen: eine Reise nach Kalifornien. Im Mai soll es losgehen. Bis dahin muss sie eine Pflegekraft finden, die sie begleitet.