Seit 47 Jahren wird Stefan Brachwitz von seinen Eltern gepflegt. Die sind nun im Rentenalter und fragen sich, wie es weitergehen soll.

Zurückhaltend steht Stefan Brachwitz im Flur der elterlichen Wohnung in der Gropiusstadt. Obwohl er fast zwei Meter groß ist, wirkt er etwas schüchtern, sucht aber Blickkontakt. Erwidert man den, winkt er und lächelt kurz. Durch eine frühkindliche Hirnschädigung ist Stefan Brachwitz mehrfach schwerstbehindert, leidet zusätzlich an Epilepsie, einer Spastik und Diabetes. Seine Eltern betreuen ihn 24 Stunden am Tag zu Hause – Pflegegrad fünf, die höchste Stufe.

Vermutlich sei ein Sauerstoffmangel während der Schwangerschaft schuld, sagt Mutter Heidi Brachwitz. Genau wisse man es nicht. „Ist letztlich auch egal. Ist halt so.“ Heidi Brachwitz wirkt stark und wortgewandt. Sie lacht viel – eine fröhliche und lebensfrohe Frau, die ihren Sohn abgöttisch liebt. Mitleid als „arme Eltern eines behinderten Kindes“ wollen sie und ihr Mann Wolfgang nicht.

„Er gibt so viel Liebe zurück“

„Warum auch? Er war ein Wunschkind ersten Ranges und gibt so viel Liebe zurück“, sagt sie und strahlt. Das Problem der Familie Brachwitz liegt woanders. Stefan ist mittlerweile 47 Jahre alt, Mutter Heidi 73, Vater Wolfgang 76. Beide Elternteile haben altersbedingt mit ersten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Geschwister hat Stefan nicht. „Was passiert, wenn wir nicht mehr können?“ Dies Frage beschäftigt die beiden immer und immer wieder.

Heidi Brachwitz hat ihr ganzes Leben ihrem Sohn gewidmet. Als klar war, dass er sich nicht normal entwickeln wird, gab sie ihre Beamtenposition im Bezirksamt Neukölln auf. „Ich habe diese Entscheidung nie bereut“, sagt sie. Die Rollen waren klar verteilt. Ihr Mann machte Karriere in der Berliner Verwaltung und sorgte für den Lebensunterhalt, sie kümmerte sich um Stefan. Etwas gefehlt habe ihr nie.

Ein Vorfall hat Stefan bis heute traumatisiert

Ein schönes Leben, in der es nur eine schlimme Situation gegeben habe. Die erklärt auch, warum sich Familie Brachwitz in dieser Lage befindet. Stefan leidet bis heute darunter. Mit Anfang 30 bekam er einen Platz in einer Wohngruppe. „Wir dachten damals, das ist ein Wink des Schicksals“, sagt Heidi Brachwitz. In dem Wissen, dass ihr Sohn gut versorgt ist, hätten sie und ihr Mann von da an in Ruhe alt werden wollen.

Eineinhalb Jahre sei Stefan dort gewesen, bis es 2002 zu einem nie geklärten Vorfall gekommen sei. „Er kam zum Wochenende nach Hause, war tief traumatisiert, hat dann ein Dreivierteljahr die Wohnung nicht mehr verlassen und kaum Nahrung zu sich genommen.“

Er braucht die Versicherung, dass er wiederkommen darf

Das habe bis heute Folgen. Zwar gehe Stefan mit seinem Einzelfallhelfer mittlerweile wieder gern raus, oft aber nicht ohne die Rückversicherung, dass er wiederkommen kann. „Ihn wieder irgendwo getrennt unterzubringen, würde bedeuten, ihn hintergehen zu müssen und vielleicht nie wieder besuchen zu können“, befürchtet seine Mutter. Dass es irgendwann so nicht mehr weitergeht, könne sie ihrem Sohn aber nicht vermitteln.

„Wir haben seit 47 Jahren ein Kleinkind zu Hause“, bringt es Heidi Brachwitz auf den Punkt. Es ist eine nüchterne Situationsbeschreibung. Denn Stefan habe sich geistig nie über dieses Niveau hinaus entwickelt. Von Zeit, Krankheit, Altern oder Tod habe er keine Vorstellung. In Berlin gibt es 23.500 Pflegebedürftige, die jünger als 60 Jahre sind. Davon werden wie Stefan Brachwitz 18.023 ohne fremde Hilfe zu Hause gepflegt. „So lange wie es geht, geht es“, sagt Heidi Brachwitz. „Aber eben nur so lange.“ Am liebsten würden sie ihren Sohn eines Tages in ein Seniorenheim mitnehmen. Entsprechende Angebote gebe es in Berlin aber nicht.