Berlin. Michael Ewers leitet das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité. Ein Gespräch über Pflege in Deutschland.

Sowohl die pflegerische Versorgung in Deutschland als auch der Pflegeberuf seien in einer Krise, sagt Michael Ewers, Professor für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Charité im Gespräch mit der Berliner Morgenpost. Problematisch sei zudem, dass in der Pflege zum Teil beträchtliche Gewinne erwirtschaftet würden.

Berliner Morgenpost: Herr Ewers, haben wir einen Pflegenotstand in Deutschland?

Michael Ewers: Ja. Aber wir erleben ihn zyklisch immer wieder, bisher ist er auch immer wieder abgeebbt. Wir nehmen den Pflegenotstand im Wesentlichen als Krise des Beschäftigungssystems wahr, es fehlt an Personal. Ich würde es anders formulieren: Wir befinden uns tief in einer Pflegekrise, denn wir haben strukturelle Probleme in Deutschland – in zweifacher Hinsicht. Einerseits haben wir eine Krise der pflegerischen Versorgung in allen Bereichen, in der Primär- und Akutversorgung ebenso wie in der Langzeitversorgung überwiegend älterer Menschen. Andererseits haben wir, und das ist mindestens ebenso wichtig, eine Krise des Pflegeberufs.

Es betrifft also nicht nur die Altenpflege?

Pflege ist viel mehr als Altenpflege. Spätestens seit Einführung der Pflegeversicherung tendieren wir in Deutschland dazu, Pflege mit Altenpflege gleichzusetzen. International ist die alltagsnahe Unterstützung vorwiegend älterer Menschen aber gar nicht das Kerngeschäft einer professionellen Pflege. In vielen Ländern wird dieser Bereich dem Sozialwesen zugerechnet, und die damit verbundenen Aufgaben werden häufig von Betreuungskräften übernommen. Pflegende sind dort in einer anderen Rolle als hierzulande, sie sind Gesundheitsexperten und beispielsweise auch in der Primärversorgung tätig. In Deutschland übernimmt normalerweise der Hausarzt die Primärversorgung, also den ersten Zugang zum Gesundheitswesen. International gehen die Menschen aber meistens in ein Gesundheitszentrum, wenn Sie sich unwohl fühlen. Dort treffen sie auf viele unterschiedliche Berufsgruppen, darunter oft in erster Linie auf Pflegende. Das sichert Hilfe ohne Überversorgung.

Wie ist der Pflegeberuf in die Krise geraten?

Durch unser überholtes Verständnis von Pflege, unsere Sichtweise auf diesen Beruf und durch strukturelle Weichenstellungen. Wir erleben derzeit beide Aspekte dieser Krise, die der Versorgung und die des Berufs. Beides zusammengenommen führt dazu, dass in allen Versorgungsbereichen Arbeitskräfte fehlen, kaum noch jemand gerne diesen Beruf ergreift und der Beruf in einem sehr schlechten Licht steht. Damit haben wir nicht die Möglichkeit, auf die Herausforderungen adäquat zu reagieren.

Im kommenden Jahr wird in Deutschland die generalistische Pflegeausbildung eingeführt. Die Ausbildung wird dann nicht mehr notwendig in Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege unterteilt. Wird es damit besser?

Wir haben lange für die generalistische Ausbildung gestritten, sie ist ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Wir knüpfen an internationale Modelle an, und wir geben Pflegenden, die diesen Beruf ergreifen, ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Leider hat es die Bundesregierung versäumt, dieses Modell in dem neuen Pflegeberufegesetz konsequent durchzusetzen. Wir haben jetzt eine halbgare Lösung geschaffen. Man kann allen, die diese Ausbildung machen, nur raten, den komplett generalistischen Ausbildungsgang zu wählen.

Oft wird der Eindruck erweckt, man müsse Pflegekräfte nur besser bezahlen, dann haben wir auch keinen Personalmangel mehr. Ist das zu kurz gegriffen?

Ja, das ist bei weitem zu kurz gegriffen. Natürlich ist es wichtig, für seine Leistungen ein angemessenes Gehalt zu bekommen. Das will auch jeder Pflegende. Aber viel wichtiger ist ihnen, dass sie ihre Arbeit gut machen können und dass sie das, was sie in der Ausbildung gelernt haben, in der Praxis auch anwenden können. Dazu braucht es vor allem mehr Personal. Zweitens müssen die Arbeitsbedingungen generell besser werden, die Vergütung ist nur ein Teil davon. Es geht etwa auch um verlässliche Regelungen für die Arbeitszeit und die Freizeit.

Steht unser Pflegesystem vor dem Kollaps?

Diese politische Rhetorik soll Druck entfalten. Wenn Sie so wollen, ist der Kollaps schon längst da. Wenn man sich die Versorgung von Patienten anguckt, haben wir in einigen Versorgungsbereichen extrem schwierige Zustände, teilweise aber auch luxuriöse Zustände.

Wo gibt es denn bitte Luxus in der Pflege?

Durchaus in der Versorgung alter Menschen, wenn wir uns den Zustand mancher Altenheime ansehen. Wir haben dort zum Teil sehr hohe Standards, die es so in anderen Ländern nicht gibt. Wir sind ein sehr reiches Land und jammern zum Teil auf hohem Niveau. Das Problem ist: Wer auf pflegerische Versorgung angewiesen ist, hat eben keine Garantie, dass er in gute Hände kommt. Eine beständige Form von Qualität, die ich jedem Bürger zusichern kann, die gibt es nicht. In einigen Regionen Deutschlands finden Sie überhaupt niemanden, wenn Sie häusliche Versorgung wünschen. Qualität hat auch etwas mit Kontinuität und Verlässlichkeit zu tun, sie darf nicht vom Wohnort oder vom Zufall abhängig sein.

Ist das ein Problem des ländlichen Raums?

Auch in Berlin klagen viele Pflegebedürftige etwa, dass sie keinen Platz finden in der Tagespflege oder der Kurzzeitpflege. Ja, das Problem gibt es auch in Großstädten. In München ist es extrem, weil sich das Pflegepersonal die hohen Mieten nicht mehr leisten kann. Auf diesem Weg sind wir in Berlin auch. Wir sind eine älter werdende Gesellschaft und mit dem Alter kommen eben oftmals auch die Gesundheitsprobleme. Wir müssen dringend in die pflegerische Infrastruktur investieren, und wir brauchen mehr Pflegende. Das steht völlig außer Frage. Zudem werden nicht nur die Patienten älter, sondern auch die Pflegenden selbst. Das ist in anderen Ländern auch so, das haben unsere Studien gezeigt. Der Anteil der über 50-Jährigen unter den Pflegenden liegt oftmals zwischen 30 und 40 Prozent. Wir brauchen junge Menschen, die in diese Berufe gehen.

Viele gehen in den Beruf, verlassen ihn aber auch schnell wieder...

Im Durchschnitt beträgt die Verweildauer acht Jahre, das ist sehr gering. Der Hauptgrund dafür sind die Arbeitsbedingungen. Man könnte viel tun, um die Qualität der Arbeit zu verbessern und die Menschen im Beruf zu halten.

Wo liegen die Herausforderungen in der häuslichen Pflege?

Wir legen in Deutschland einen sehr starken Akzent auf die häusliche Pflege. Das ist gewollt – von den Patienten, den Angehörigen, aber auch vom Gesundheitssystem. International arbeiten in diesem Feld häufiger Pflegehelfer und Pflegeassistenten, eher wenige Pflegefachkräfte. Das ist in Deutschland noch anders. Zudem ist die häusliche Pflege für manche Patientengruppen extrem anspruchsvoll geworden. Es gibt mehr Patienten, die schwer krank sind und eine Versorgung rund um die Uhr benötigen. Hinzu kommen zunehmende soziale Herausforderungen, eine wachsende Zahl von Menschen mit demenziellen Erkrankungen oder auch vereinsamte Menschen. Das erfordert unterschiedliche Qualifikationen. Deswegen sehen wir in anderen Ländern teambasierte Ansätze, bei denen Ärzte, Pflegefachkräfte und Therapeuten Hand in Hand arbeiten. In Deutschland ist das bislang nur in der Palliativversorgung finanziell und rechtlich abgesichert.

In Deutschland gilt der Pflege-Grundsatz „häuslich vor stationär“. Ist das vernünftig?

Eine schwierige Frage. Zunächst: Ja. Die Menschen wollen das, und dort ist auch vieles möglich. Wir sollten die ambulante und die häusliche Versorgung ausbauen. Wir sehen aber auch die Grenzen häuslicher Versorgung, insbesondere dort, wo jemand allein lebt oder die Angehörigen überfordert sind. Kernaufgabe professioneller Pflege ist es, Angehörige zu unterstützen und nicht alles selber zu tun. Die Professionellen müssen das soziale System stabilisieren, eine kommunale Einbindung gewährleisten, ehrenamtliche Helfer und Pflegeassistenten einbinden und die Verantwortung für deren Tun übernehmen. Sie müssen darauf achten, dass die Sicherheit und Qualität der Versorgung jederzeit gewährleistet ist. Aber wenn es keine Angehörigen gibt oder eine 79-Jährige ihren 80-jährigen Mann pflegt, dann muss man mit den Menschen frühzeitig Alternativen entwickeln. Wenn wir sehen, dass sich Menschen in der häuslichen Pflege verausgaben, müssen wir beraten und gemeinsam gute Lösungen suchen.

Welche Alternativen gibt es?

Pflege-WGs zum Beispiel. Außerdem sind Heime heute wohnlicher als früher. Die Regel „häuslich vor stationär“ ist nicht immer die richtige. Man muss den Menschen Entscheidungsfreiräume geben. Deshalb ist auch wichtig, dass wir die finanzielle Benachteiligung der stationären Versorgung aufheben. Das Wahlrecht, ob ich mich für eine häusliche oder eine stationäre Versorgung entscheide, darf nicht von finanziellen Erwägungen abhängen. Ein weiteres Problem in Deutschland ist die starre Barriere zwischen stationärer und häuslicher Versorgung. Wir klagen seit langem darüber, aber wir heben sie nicht auf.

Wo gibt es denn bessere Modelle der integrierten Versorgung?

In allen Ländern um uns herum. Deutschland ist mittlerweile eine Insel, die nach wie vor auf ein arzt- und krankenhauszentriertes Gesundheitssystem und eine nachgeordnete Pflege setzt. Wir stärken die Pflege nicht in verantwortlichen Rollen. In Schweden zum Beispiel muss jeder Pflegende einen Bachelor-Studiengang absolviert haben. Viele setzen sogar noch ein Masterstudium obendrauf, um sich auf bestimmte Pflegebereiche zu spezialisieren. Zu den Teams in der stationären Versorgung gehören dort aber auch geringer qualifizierte Pflegeassistenten.

Wie beurteilen Sie denn unsere Ausbildung?

Deutschland geht einen Sonderweg. Unsere dreijährige Berufsausbildung ist auf keinem hohen Niveau. Schon jetzt hinken wir dem Niveau anderer Länder hinterher. Die Niederlande zum Beispiel fahren zweigleisig. Dort kann ich sowohl über eine berufliche Ausbildung als auch über ein Studium den Zugang zum Pflegeberuf erhalten. Die Berufsausbildung dort ist aber klarer strukturiert und besser aufgestellt, ähnlich in der Schweiz. Wir beschäftigen viele Quereinsteiger und Flüchtlinge in der Pflege. Das ist auch wichtig, wir brauchen ja die Arbeitskräfte. Aber in den Niederlanden haben 45 Prozent der Absolventen einen Hochschulabschluss – mit steigender Tendenz. In Schweden und Großbritannien sind es 100 Prozent. Bei uns sind es ein bis zwei Prozent, und die gibt es auch nur in bestimmten Pflegebereichen. Uns fehlt ein guter Mix an Qualifikationen, wir richten den Blick nur darauf, schnell mehr gering qualifizierte Leute für die Pflege zu gewinnen.

Aber ist denn sicher, dass ein solcher Qualifikationsmix hilft?

Ja, das belegen Forschungen. Je höher der Anteil der Pflegenden mit einem Bachelor-Abschluss in einem gemischten Team, desto geringer sind Sterblichkeit und Krankheitslast. Das ist für Krankenhäuser ermittelt worden, die Ergebnisse lassen sich aber auf andere Settings übertragen. In Deutschland müssen wir einen solchen Qualifikationsmix erst einmal aufbauen, da stehen wir ganz am Anfang. Vor allem in Heimen und der häuslichen Versorgung sind wir noch weit davon entfernt.

Der Personalbedarf ist hoch. Können wir die Lücke schließen?

Die Frage ist müßig, wir müssen sie schließen. Wir müssen damit anfangen, die Pflege attraktiver zu machen. Die hochschulische Qualifikation ist ein Weg, um die Qualität der Pflege zu verbessern und mehr junge Menschen für Pflegeberufe zu gewinnen. Man kann auch eine berufliche Ausbildung mit einer fachgebunden Hochschulreife verbinden, also eine Brücke ins reguläre Bildungssystem bauen. Und wir müssen der Pflege mehr Verantwortung geben. Pflege ist eine anspruchsvolle Profession, ohne Pflege geht es nicht. Diese Ansicht muss sich durchsetzen.

Das neue Pflegeberufegesetz sieht doch die Möglichkeit einer Hochschulausbildung vor...

Das weiß aber kaum jemand. Die Bundesregierung tut auch nichts dafür, um das bekannter zu machen. An der Charité entwickeln wir derzeit einen Pflegestudiengang, der im kommenden Jahr startet. Die Evangelische Hochschule und die Alice Salomon Hochschule machen Ähnliches.

Unterstützt Sie die Landesregierung?

Der Senat interessiert sich nicht sonderlich dafür. Gesundheitssenatorin Dilek Kolat sieht die akademisch qualifizierte Pflege eher skeptisch, und auch aus der Wissenschaftsverwaltung gibt es nicht gerade Rückenwind. Die drei beteiligten Senatsverwaltungen für Wissenschaft, Gesundheit und Bildung bekommen nicht einmal eine ressortübergreifende Abstimmung hin. Berlin gibt wieder mal das Beispiel, wie man es möglichst nicht machen sollte. Die drei Hochschulen suchen jetzt ambulante Pflegedienste und Pflegeheime, die Pflegestudierende in klinischen Studienphasen aufnehmen wollen. Eine berlinweite Abstimmung existiert da nicht, das ist eher Wilder Westen. Die Politik könnte also viel tun. Wenn sie hier moderieren und koordinieren würde, wäre schon viel gewonnen. Stattdessen heißt es schlicht: Berlin verdoppelt die Ausbildungsplätze in der Pflege. Wie das gehen und woher die Lehrkräfte dafür kommen sollen, bleibt offen. Es wird viel Schaum geschlagen und wenig konkrete Unterstützung geboten.

In Deutschland ist die Pflege älterer Menschen über Versicherungen organisiert. Wir haben gleichzeitig ein Bürokratiemonster. Ist das sinnvoll? Oder wäre es besser, Pflege über Steuern zu finanzieren?

Wir sehen international auch in steuerfinanzierten Systemen Probleme. Ich bin mit unserem Versicherungssystem nicht unzufrieden. Problematisch ist, dass wir mit der Einführung der Pflegeversicherung ein vorwiegend marktwirtschaftlich orientiertes System geschaffen haben. Wir haben seitdem einen rasanten Anstieg an privaten Anbietern, sowohl von Pflegeheimen als auch von ambulanten Pflegediensten. Die wollen natürlich Gewinne machen. Doch obwohl das System finanziell sehr eng genäht ist, wissen wir, dass in der Pflege zum Teil beträchtliche Gewinne erwirtschaftet werden. Das geht zum Teil über die Immobilien, oft aber wird auch aus den Mitarbeitern herausgepresst, was nur irgendwie geht. Diese Mechanismen finde ich fragwürdig. Wir müssen als Gesellschaft darüber diskutieren, was wir wollen: Sollen wir die Versicherungsleistungen dafür aufbringen, dass Menschen angemessen versorgt werden oder wollen wir, dass Gewinne abgeschöpft werden? Wir sehen bereits internationale Player, die in den deutschen Pflegemarkt drängen, weil sie wissen, hier ist was zu holen.

Sollen wir den Markt wieder schließen?

In Kanada zum Beispiel gibt es auch private Anbieter. Die haben ihr Auskommen, aber es geht nicht um Gewinnmaximierung. Die Leistungen und ihre Vergütung sind dort sehr klar beschrieben.

Nötig wären also ganz grundlegende Änderungen des Systems. Trotzdem die Frage: Gibt es denn Entscheidungen der Bundesregierung zur Pflege in jüngster Zeit, die ihrer Ansicht nach in die richtige Richtung gehen?

Einiges geht in die richtige Richtung, etwa im Pflegeberufegesetz oder bei der Pflegestärkung. Aber die Maßnahmen sind nicht konsequent, teilweise widersprechen sie sich. Vieles bleibt halbgar. Das machen andere Länder besser.

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