Berlin. Heike Schumanns Vater erlitt einen Schlaganfall. Mit ihrem Mann pflegte sie ihn zu Hause. Dabei gelang sie an ihre Grenzen.

Bei vielen Menschen entwickelt sich die Pflegebedürftigkeit nach und nach, bei anderen tritt sie ganz plötzlich ein, etwa nach einem Unfall oder einem Hirnschlag. Ein Tag verändert das Leben, auch das der ganzen Familie – Heike und Frank Schumann haben ihn erlebt.

Das Ehepaar wohnt seit 1998 am Rande Berlins, in Schmöckwitz (Treptow-Köpenick). Beide waren bereit, Angehörige zu pflegen und darauf auch gut vorbereitet: Heike Schumann (54) ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet als Verkaufsleiterin bei einer Firma für Heil- und Hilfsmittel. Frank Schumann (51) ist Krankenpfleger, war 20 Jahre lang in der ambulanten Pflege tätig und leitet seit neun Jahren die Fachstelle für pflegende Angehörige beim Diakonischen Werk Berlin.

Ein zweites Haus gebaut, um Angehörige pflegen zu können

Sie bauten auf ihrem Grundstück ein zweites Haus, ein gemütliches Holzhaus, und konzipierten es barrierefrei, alle Räume liegen ebenerdig mit Zugang in den schönen Garten. Heike Schumanns Vater Gottfried Buffo, damals 79 Jahre alt, zog im Mai 2016 dort ein. „Er war damals schon hilfebedürftig, einiges haben wir auch erst nach seinem Umzug bemerkt, weil er es vorher gut versteckt hat“, erinnert sich Heike Schumann. Er konnte keine langen Strecken mehr gehen, konnte nicht mehr gut gucken und hatte eine beginnende Inkontinenz. Aber es lag alles im unproblematischen Rahmen.

Doch an einem Morgen im Juli waren Schumanns voller Sorge, weil sich im Haus nichts regte. Sie schauten nach und fanden den Vater im Flur liegend. Offenbar hatte er nach dem Duschen einen Schlaganfall erlitten. Zum ersten Mal in seinem Leben musste der Mann, der immer großen Wert auf seine Selbstständigkeit gelegt hatte, in ein Krankenhaus. Das habe ihm Angst gemacht, sagt seine Tochter. Doch in der Reha in Beelitz erholte sich der Vater gut.

Einen Tag nach der Reha der nächste Anfall

Schon einen Tag, nachdem er wieder zu Hause war, erlitt Gottfried Buffo allerdings einen epileptischen Anfall. „Weder das Krankenhaus noch die Reha-Klinik haben uns informiert, dass ein solcher Anfall als Komplikation nach einem Schlaganfall möglich ist“, sagt Frank Schumann. Daher waren auch keine entsprechenden Medikamente im Haus. Und der Rettungswagen kam erst nach 25 Minuten „Wir waren so hilflos, das war sehr belastend“, erinnert sich Heike Schumann.

Der Vater kam wieder ins Krankenhaus und erlitt dort nach einer Woche einen zweiten Anfall. 80 Prozent der Fähigkeiten, die er sich nach seinem Schlaganfall erarbeitet hatte, waren wieder verschwunden. Nun hatte er Lähmungserscheinungen, seine Sprache war ebenso eingeschränkt wie seine kognitiven Fähigkeiten. Auch sein Lebensmut sank. „Es war für uns schwer einzuschätzen, wie weit wir ihn noch fördern können und sollen“, sagt Frank Schumann. Auch dies belastete ihn und seine Frau.

Mehr und mehr benötigte der Vater eine Rundumversorgung

Gottfried Buffo wurde die damals höchste Pflegestufe drei zuerkannt. Mehr und mehr benötigte er eine Rundumversorgung. Also reduzierte Frank Schumann seine Arbeitszeit von 40 auf 20 Stunden pro Woche. Zu der Pflegearbeit und der emotionalen Belastung kamen nun noch Probleme mit der Pflegekasse. „Das Pflegegeld wurde uns nur sehr verzögert gezahlt. Wir wurden oft behandelt wie lästige Bittsteller“, erinnert sich Frank Schumann. Mit der Bewilligung der Tagespflege habe es ebenfalls Probleme gegeben.

Schumanns hätten gern Entlastung durch einen Pflegedienst in Anspruch genommen, doch da erwies sich ihre Wohnlage als Handicap. „Zu weit draußen“, befanden mehrere Dienste. Schließlich fanden sie einen, kündigten aber nach wenigen Tagen, weil er keine zufriedenstellende Qualität geliefert habe und obendrein nicht erbrachte Leistungen habe abrechnen wollen.

Kein Platz in einer Tagespflege zu finden

Einen Platz in einer wohnort- oder arbeitsortnahen Tagespflege gab es auch nicht. Wenigstens fand Frank Schumann an seiner ehemaligen Arbeitsstelle, einer Diakonie-Station in Schöneberg, einen Tagespflegeplatz für seinen Schwiegervater. Zweimal pro Woche brachte er ihn dorthin und fuhr dann ins Büro am Südstern in Kreuzberg. Nach der Arbeit holte er ihn wieder ab. An den restlichen Tagen arbeitete er zu Hause.

So ging es einige Wochen, doch im Oktober 2016 erlitt Gottfried Buffo einen erneuten epileptischen Anfall, der ihn weiter schwächte. Zu der emotionalen Belastung kam die Herausforderung, sich Tag und Nacht um den Vater kümmern zu müssen. Einen Feierabend gab es nicht mehr, das soziale Umfeld beschränkte sich auf die Nachbarn. Maximal zwei Stunden konnten sie den Pflegebedürftigen allein lassen. Nichts war mehr planbar. Und dabei war völlig offen, wie lange diese Pflege andauert. Monate? Jahre? Auch das sei schwer auszuhalten gewesen, geben die beiden zu.

„Wie lange können wir das leisten?“

Frank Schumann arbeitete nun fast ausschließlich im Home-Office, Konferenzen mit den Kollegen fanden per Skype am Bildschirm statt. Wenn er zu einer wichtigen Sitzung musste, arbeitete seine Frau von zu Hause aus. Manchmal konnte auch ihr Sohn die Betreuung übernehmen, der damals gerade volljährig geworden war. „Wir sind ganz schön an unsere Grenzen gekommen“, sagt Heike Schumann im Rückblick. Die Frage, „wie lange können wir das leisten?“, habe sie sehr beschäftigt. Gleichzeitig hatten sie oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich überlastet fühlten.

Weihnachten 2016 wollte Gottfried Buffo dann nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Er mochte keine Gehübungen mehr machen, kurz darauf wollte er auch nicht mehr duschen. Seiner Tochter und seinem Schwiegersohn fiel es zunächst schwer, das zu akzeptieren. Aber im Januar und Februar 2017 habe der 80-Jährige massiv abgebaut, habe sich nicht mehr äußern können und sei auch kaum noch ansprechbar gewesen. Schumanns zogen nun einen ambulanten Hospizdienst hinzu, eine Palliativmedizinerin begann mit einer Schmerztherapie.

„Man fühlt sich, als ob man ihm das Lebensnotwendige verweigert“

„Es war für uns ganz schwer auszuhalten, dass mein Vater jetzt auch nicht mehr essen und trinken wollte. Man fühlt sich, als ob man ihm das Lebensnotwendige verweigert“, sagt die Tochter. Und ihr Mann ergänzt: „Ich habe in Vorträgen pflegenden Angehörigen geraten, sie sollen keine Angst haben vor dieser letzten Lebensphase, in der die Pflegebedürftigen keinen Hunger und keinen Durst mehr verspüren. Aber das bei einem eigenen Angehörigen akzeptieren zu müssen, war eine große Herausforderung.“ Die Zweifel, ob man auch das Richtige tut, kennen wohl alle pflegenden Angehörigen. Selbst Pflegeprofis wie Heike und Frank Schumann sind davor nicht gefeit.

Immerhin sind ihnen im Unterschied zu vielen anderen pflegenden Angehörigen Konflikte innerhalb der Familie erspart geblieben. „Im Gegenteil, meine Brüder hatten eher Angst, dass wir uns übernehmen“, erzählt Heike Schumann. Am 12. März 2017 starb Gottfried Buffo. Tochter und Schwiegersohn bekennen, dass sie völlig ausgelaugt gewesen seien nach diesen acht Monaten. Es ist aber in Deutschland durchaus normal, dass Menschen zehn Jahre oder noch länger einen Angehörigen pflegen. Und nicht selten folgt dann ein weiteres pflegebedürftiges Familienmitglied. „Wie schaffen die das?“ Diese Frage ist von Außenstehenden kaum zu beantworten.

Sie vermissen Anerkennung und Wertschätzung

„Angehörige sind der größte Pflegedienst in diesem Land“, betont Frank Schumann. „Es sollte eine Grundeinstellung der Anerkennung und Wertschätzung vorhanden sein. Wenn sich das durchsetzen würde, gäbe es auch weniger Auseinandersetzungen mit den Pflegekassen.“

Pflegenden Angehörigen werde oft Eigennutz wegen des Pflegegeldes, ein Helfersyndrom oder Laienhaftigkeit unterstellt – letzteres auch gern von professionell Pflegenden, so Schumann. Diese würden häufig überheblich auf Kritik von pflegenden Angehörigen reagieren. Hinsichtlich der Qualifikation und damit auch der „menschlichen Kompetenz“ gebe es große Unterschiede bei den Pflegekassen, hat Frank Schumann beobachtet. Er mahnt: „Wenn nicht verstanden wird, dass pflegende Angehörige über Kompetenz verfügen, wenn sie nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert werden, darf man sich über die jetzige Lage der Pflege nicht wundern.“ Um sich für die Anerkennung pflegender Angehöriger einzusetzen, ist Frank Schumann auch in den Verein „wir pflegen: e.V.“ eingetreten.

Diese Haltungsfrage, so Schumann, müsse angegangen werden, bevor man sich Gedanken über eine Änderung des Pflegesystems macht. Und noch etwas hat das Paar aus der Pflege des Vaters und Schwiegervaters mitgenommen: „Es zeigt einem die eigene Endlichkeit auf. Man fragt sich unweigerlich, was man in seinem Leben machen und welche Schwerpunkte man setzen will.“

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