Welt-Aids-Tag

12.700 Menschen in Deutschland haben unwissentlich HIV

| Lesedauer: 7 Minuten
Laura Réthy
Das ist HIV/Aids

Das ist HIV/Aids

Bleibt eine Infektion mit dem HI-Virus unbehandelt, entwickelt sich die Immunschwäche-Krankheit Aids.

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Die Aufklärung hat dazu geführt, dass mehr über HIV bekannt ist. Doch viele Menschen wissen immer noch nichts von ihrer Infizierung.

Berlin.  Anfang der 80er-Jahre wird bei einem Patienten in Deutschland zum ersten Mal eine Infektion mit dem HI-Virus diagnostiziert. Der Auslöser der Krankheit Aids, die zu einer der größten Herausforderungen der globalen Gesundheit werden wird, ist hierzulande angekommen. 30 Jahre später stagniert die Zahl der jährlichen Neuinfektionen bei rund 3000, wie das Robert-Koch-Institut (RKI) anlässlich des heutigen Welt-Aids-Tages mitteilte.

Obwohl HIV bis heute nicht heilbar ist, hat die moderne Medizin in den vergangenen Jahrzehnten immense Fortschritte gemacht: Medikamente ermöglichen den Betroffenen, die Zugang zu den Therapien haben, oftmals ein fast normales Leben. Eine HIV-Infektion ist zu einer gut behandelbaren, chronischen Krankheit geworden. Doch die hohe Zahl derer, die nichts von ihrer Infektion mit dem HI-Virus wissen und eine noch immer bestehende Stigmatisierung der HIV-Positiven in Deutschland besorgt Experten.

Wie viele Menschen in Deutschland sind HIV-positiv?

Ende 2016 lebten hierzulande laut RKI etwa 88.400 Menschen mit dem HI-Virus. Im weltweiten Vergleich ist diese Zahl sehr niedrig: Allein in Südafrika sind nach Schätzungen 19 Prozent der 15- bis 49-Jährigen mit HIV infiziert. Sorge macht den Experten jedoch die hohe Dunkelziffer in Deutschland. Laut einer Modellrechnung wissen 12.700 der 88.400 nichts von ihrer Infektion.

Die Dunkelziffer sei aus zwei Gründen besorgniserregend, sagt Professor Josef Eberle von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. Neben der Gefahr einer Ansteckung anderer sei es für die Infizierten wichtig, die Therapie möglichst früh nach der Infektion zu beginnen. „Je früher ich die Positiven therapieren kann und sie somit vor Aids beschütze, desto weniger infektiös sind sie für andere“, sagt der Virologe.

Warum wissen 12.700 Menschen nichts von ihrer HIV-Infektion?

Die Dunkelziffer umfasse besonders Heterosexuelle, weil bei ihnen oft nicht an HIV gedacht wird, sagt RKI-Präsident Lothar Wieler. „In der Schwulenszene gibt es tatsächlich ein stärkeres Bewusstsein für das Thema HIV als unter Heterosexuellen“, sagt Thomas Seidel, der in Weimar eine HIV-Schwerpunktpraxis leitet. Aber auch unter ihnen ist die Testquote laut der Deutschen Aids-Hilfe (DAH) zu niedrig. Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung hatten zwei Drittel der Homo- und Bisexuellen im zurückliegenden Jahr keinen oder sogar noch nie einen HIV-Test gemacht. „Ein Grund ist die Angst“, sagt Holger Wicht von der DAH.

Wicht erzählt von einem Fall, den die DAH im Rahmen ihrer neuen Kampagne „Kein Aids für alle“ aufgeschrieben hat: Maik, ein 43-jähriger Diplom-Ingenieur, verdrängt über Jahre seine Aids-Symptome. Er hatte Angst davor, abgestempelt zu werden. Am Ende ist sein Immunsystem praktisch nicht mehr vorhanden. Er geht zum Sterben aus dem Krankenhaus nach Hause – und überlebt mit viel Glück. „Das ist eine extreme Geschichte“, sagt Wicht. Aber Angst oder Scham seien starke Gegner.


Könnte mithilfe eines HIV-Selbsttests für zu Hause die Dunkelziffer reduziert werden?

Ja, sagen alle Experten. „Denn trotz der vielen, auch anonymen und kostenlosen Angebote für einen HIV-Test erreichen wir 15 Prozent der Infizierten nicht“, sagt Eberle. Ein Selbsttest könnte also jene ansprechen, die aus Angst oder Scham nicht zum Arzt gehen. Jedoch müssten die Risiken des Tests reduziert werden. „Die Ablesegenauigkeit ist fehlerhafter als bei Tests im Labor“, weiß Eberle. „Es könnte sein, dass Betroffene Geister sehen, die gar nicht da sind – oder sich umgekehrt in falscher Sicherheit wiegen.“ Deswegen sei gute Aufklärung wichtig.

In Deutschland dürfen Selbsttests bislang nicht an Privatpersonen abgegeben werden. Ein Test, der so tief in das Leben eines Menschen eingreife, gehöre in die Hände eines Arztes – sagt die Medizinprodukte-Abgabeverordnung. Eine Änderung der Verordnung wird derzeit geprüft. „Wir gehen davon aus, dass der Test im Laufe von 2018 kommen wird“, sagt Eberle. Großbritannien hat bereits gute Erfahrungen gemacht, „man hat dort jene erreicht, die man auch erreichen wollte“, sagt Eberle: männlich, aus dem ländlichen Raum, die zuvor noch nie einen Test gemacht haben.

Wie stark ist HIV in Deutschland heute noch stigmatisiert?

Eine aktuelle Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigt, dass noch immer Unwissen im Zusammenhang mit HIV herrscht. Zwar würden mehr als 90 Prozent der Befragten mit einem HIV-Positiven zusammenarbeiten, aber 33 Prozent sagen zum Beispiel auch, sie würden sicher oder wahrscheinlich nicht dasselbe Geschirr benutzen. Und nur drei Prozent stimmen der Aussage voll und ganz zu, dass es mit gegenwärtigen Behandlungsmöglichkeiten möglich ist, andere beim Sex ohne Kondome nicht mehr mit HIV anzustecken. Richtig ist: Eine Übertragung ist nicht möglich, wenn ein HIV-Positiver eine gut wirksame Therapie erhält.

Auch die Patienten von HIV-Arzt Thomas Seidel berichten von Vorurteilen. In anderen Praxen bekämen sie zum Beispiel immer den letzten Termin des Tages angeboten, damit man danach auch gründlich die Geräte säubern könnte.

Um Vorurteile abzubauen, ist es der Deutschen Aids-Hilfe wichtig, ein zeitgemäßes Bild von HIV zu zeichnen – kein Horrorszenario, um abzuschrecken. „Wir dürfen sagen, dass mit HIV ein gutes Leben möglich ist. Damit verharmlosen wir nichts“, sagt Wicht. Und das helfe auch, die Ängste vor einem Test abzubauen.

Könnte die Pille zur Prophylaxe die Zahl der Neuerkrankungen senken?

Seit 2016 ist in der EU die sogenannte Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) zugelassen. Das Medikament enthält Wirkstoffe, die die Virusvermehrung in den Zellen hemmen und bietet bei regelmäßiger Einnahme einen hohen, aber keinen 100-prozentigen Schutz vor HIV. Lange waren die Pillen mit mehreren Hundert Euro im Monat für die meisten unerschwinglich. Seit Oktober ist der Preis im Rahmen eines Modellprojekts auf 50 Euro gesunken. Der Arzneimittelhersteller Ratiopharm zieht nun nach: Ab Dezember soll es das Präparat für 69 Euro geben. Krankenkassen übernehmen die Kosten bislang nicht.

Kritiker bemängeln, dass die Prophylaxe ein riskantes Sexualleben befördern könnte. Doch gedacht ist PrEP nur für Menschen mit einem besonders hohen Infektionsrisiko. „Man muss sich am echten Leben orientieren. Menschen verhalten sich nun mal anders, als mancher es sich wünscht“, sagt Holger Wicht von der Aids-Hilfe. Am Ende hätten alle was davon, wenn sich weniger Menschen infizieren. Laut einer Studie der Universität Rotterdam könnte PrEP in Deutschland 9000 Neuinfektionen mit HIV bis zum Jahr 2030 verhindern.