PC schlägt Sport

Immer mehr Kinder haben motorische Defizite

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Jörg Zittlau

Foto: pa

Eine Studie zeigt: Viele Kinder sind motorisch zurückgeblieben – sie können zwar mit Handy und PC umgehen, aber keine Schleife binden. Schuld sind oft die Eltern.

Kraft, Ausdauer, Gleichgewichtssinn, Bewegungskoordination – wer auf die Takelage eines Segelschiffs klettert, muss 100-prozentig fit sein. Doch besaß die Rekrutin, die im letzten Herbst auf dem Deck der „Gorch Fock“ zu Tode stürzte, all diese Eigenschaften? Oder musste sie – unter dem Druck von Vorgesetzten – die 35 Meter hinauf in die Masten klettern, obwohl sie es körperlich gar nicht bewältigen konnte? Die aktuellen Studien zur Gesundheit von Soldaten, Jugendlichen und Kindern geben jedenfalls deutliche Hinweise darauf, dass Fitness unter jungen Frauen und Männern keineswegs mehr selbstverständlich ist.

Im Frühjahr 2008 publizierte die Kölner Sporthochschule zusammen mit dem Zentralen Institut des Bundeswehr-Sanitätsdienstes eine Studie, die starke Zweifel an der Fitness der Soldaten aufkommen lässt. Demnach sind mehr als 40 Prozent von ihnen übergewichtig und 8,5 Prozent stark übergewichtig – das sind Quoten, die deutlich über denen der Zivilbevölkerung liegen. Eine weiteres Ergebnis der Studie: Jeder fünfte Soldat betreibt keinen Sport. Dafür raucht fast jeder zweite, obwohl in Kasernen ein absolutes Rauchverbot herrscht.

Bleibt die Frage, ob die Soldaten bereits unfit eingezogen werden oder aber erst im Laufe ihres Wehrdienstes körperlich abhalftern. Einen möglichen Hinweis könnten die Musterungsdaten liefern. Im Jahre 2008 wurden fast 47 Prozent der gemusterten 456.000 Wehrpflichtigen für untauglich befunden. Zur Jahrtausendwende lag die Quote noch bei 14 Prozent. Allerdings sollte man hier nicht vorschnell auf einen dramatischen Fitness-Verfall schließen. Denn die Tauglichkeitskriterien wurden in den vergangenen Jahren dem sinkenden Personalbedarf der Bundeswehr angepasst, was ihren tatsächlichen medizinischen Aussagewert deutlich einschränkte.

Mehr Aussagekraft bieten da schon Studien zum Fitnesszustand von Kindern und Jugendlichen – und deren Ergebnisse sind alarmierend. Anfang der 70er-Jahr entwickelten die deutschen Erziehungswissenschaftler Friedhelm Schilling und Ernst Kiphard einen Test, mit dem noch heute die Körperkoordination von Kindern und Jugendlichen gemessen wird. Er besteht aus relativ einfachen Übungen wie Rückwärtsgehen und seitlichem Hin- und Her-Hüpfen. Gleichzeitig legten die beiden Forscher Normwerte fest, mit denen man die Ergebnisse der Tests vergleichen konnte. In den 70ern wurden diese Vorgaben noch recht häufig erfüllt. Doch schon Anfang der Neunziger blieben hierzulande fast 30 Prozent der Grundschüler in ihrer Koordinationsfähigkeit unter der Norm, und zur Jahrtausendwende war es mehr als die Hälfte.

Und der Trend zum motorisch zurückgebliebenen Kind hält an. „Manche Viertklässler können heute keine Sprossenwand mehr hochklettern und keinen Purzelbaum mehr machen“, sagt Sportmedizinerin Monika Siegrist von der TU München. Auch die Ausdauer sei schlechter geworden, einige Kinder würden keinen Wanderausflug mehr durchhalten. „Interessant ist, dass Mädchen insgesamt weniger Sport treiben als Jungen und früher damit aufhören, etwa mit zehn Jahren.“

Eine aktuelle Studie zeigt, dass Kinder heute eher eine Computer-Maus bedienen können als schwimmen oder Schnürsenkel binden. Das niederländische Unternehmen AVG, eigentlich spezialisiert auf Internetsicherheit, befragte 2200 europäische Mütter mit Web-Zugang und Kindern im Alter von zwei bis fünf Jahren. Sie sollten die Computerfähigkeiten und die motorischen Kompetenzen ihrer Kinder dokumentieren.

Die Ergebnisse: 19 Prozent der Kleinkinder können mit einem Smartphone umgehen, aber nicht einmal zehn Prozent die Schuhe zubinden. Jedes vierte Kind kann am PC einen Webbrowser öffnen, aber nur jedes Fünfte kann ohne Hilfsmittel schwimmen. Beim Fahrradfahren sieht es ähnlich aus, die Kinder beherrschen eher den PC als das Balancieren auf zwei Rädern. Von den Zwei- bis Dreijährigen beherrscht fast jeder zweite ein Computerspiel. Die Kinder lernen heutzutage das Laufen ungefähr zur gleichen Zeit wie das Bedienen des PCs.

Aber woher kommen die motorischen Defizite? Die eine Antwort ist ebenso trivial wie naheliegend: Statische Aktivitäten wie Fernsehgucken und Gameboy nehmen mittlerweile mehr Platz ein als Herumtollen, Radfahren und Sport. Und das bezieht sich nicht nur auf den Platz im Zeitbudget, sondern auch auf den geografischen Raum. „Kinder finden immer weniger Spiel- und Bewegungsräume, in denen sie ihre Bewegungsbedürfnisse spontan und gefahrlos ausleben dürfen“, warnt Sportwissenschaftler Dieter Breithecker von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung.

Zudem würden sie durch „zur Überbehütung neigende Erwachsene“ in ihrem spontanen Spiel- und Bewegungstrieb eingeschränkt. Das Kind würde also wohl körperlich aktiv spielen, aber Mama und Papa unterdrücken diesen Drang aus Angst, dass ihren Kleinen etwas passieren könnte. Lieber fährt man sie von einem organisierten Event zum anderen, als dass man sie einem Risiko aussetzen würde.

Eine englische Studie gibt jedoch Hinweise darauf, dass viele Kinder gar nicht mehr körperlich aktiv spielen könnten, selbst wenn sie es wollten. Das Team unter Terry Wilkin von der Peninsula Medical School in Plymouth untersuchte 200 ungefähr gleichaltrige Kinder. Zu Beginn der Erhebung waren sie sieben, an deren Ende zehn Jahre alt. Dazwischen erhob man ihre körperlichen Aktivitäten und den Körperfettanteil. Es zeigte sich, dass die Speckpolster unbeeindruckt vom Bewegungspensum blieben. War ein Kind im Alter von sieben Jahren bereits dick, schränkte das in den folgenden drei Jahren massiv seinen Aktionsradius ein, bereits zehn Prozent zu viel Fettmasse führten zu drei bis vier Minuten weniger Bewegung pro Tag.

Das bedeutet: Nicht der Bewegungsmangel macht dick, sondern umgekehrt macht Übergewicht – in Deutschland ist ungefähr jedes sechste Kind davon betroffen – so träge, dass der Bewegungsradius immer kleiner wird. Die Weichen der vorpubertären Gewichtsentwicklung würden vor dem fünften Geburtstag gestellt, sagt Wilkin, „und zwar durch falsche Ernährung und nicht durch Bewegungsmangel“.

Das bedeute nicht, dass Eltern übergewichtige Kinder nicht zu mehr Bewegung animieren sollten. Denn auch wenn sich das nur marginal auf die Fettdepots niederschlägt, ist dick und aktiv immer noch besser als dick und passiv. Denn körperliche Aktivität regt den Stoffwechsel an und verbessert den Zustand von Muskeln, Herz und Kreislauf. Das schützt vor Diabetes, Bluthochdruck und Gelenkverschleiß. Fraglich ist aber, ob wirklich der Sport der Weg zu mehr Bewegung ist.

Auf jeden Fall aber sollte man ihren TV-Konsum reduzieren. Wobei dies auch dadurch geschehen kann, dass man als Alternative bestimmte Computerspiele anbietet. Denn Singen, Tanzen und Tennis vor der Konsole seien immer noch besser, sagt der Züricher Stoffwechselmediziner Philippe Beissner, „als vor dem Fernsehen still zu sitzen und dabei möglichst noch zu essen“.