Cambridge/Aachen. Eine umfassende Erbgutanalyse Zehntausender Menschen ermöglicht eine wesentlich gezieltere Suche nach den genetischen Ursachen von Krankheiten. Im Fachblatt „Nature“ stellt ein internationales Forscherkonsortium eine detaillierte Aufschlüsselung des Exoms von rund 61.000 Menschen vor.
Das Exom sind jene Teile des Erbguts, die Informationen zum Bau von Proteinen enthalten. Manche Mutationen können zu Fehlfunktionen von Proteinen führen und so Krankheiten verursachen. Ärzte können nun bei Patienten Gensequenzen mit der Datenbank abgleichen und so der Ursache einer Erkrankung eher auf die Spur kommen. Der deutsche Humangenetiker Klaus Zerres von der Technischen Hochschule Aachen spricht von einem „gigantischen Schritt nach vorn“.
Neue Daten verzehnfachen Wissen
Zwar seien in den vergangenen Jahren schon viele Genomdaten publiziert worden, schreibt das Exome Aggregation Consortium (ExAC) um Daniel MacArthur vom Broad Institute in Cambridge (US-Staat Massachusetts). Aber diese Daten seien mit verschiedenen Verfahren unterschiedlicher Qualität erhoben worden und schwer vergleichbar. Die nun vorgelegten Exom-Daten von 60.706 Menschen weltweit erweitere die bislang vorhandenen Informationen zu diesem Teil des Genoms um fast das Zehnfache.
„Die Größenordnung und Vielfalt sind von unschätzbarem Wert“, wird Daniel MacArthur in einer Mitteilung seines Instituts zitiert. „Das ermöglicht uns, extrem rare Varianten zu entdecken, und bietet einen beispiellosen Einblick in die Ursachen seltener genetischer Erkrankungen.“ Ärzte können nun Genomsequenzen ihrer Patienten mit der frei zugänglichen Datenbank abgleichen und sehr viel sicherer die Bedeutung bestimmter Varianten einordnen.
Neue Erkenntnis zu Herzmuskelerkrankung
So sind Sequenzen, die in der Datenbank sehr häufig auftauchen, demnach als Krankheitsfaktoren eher unwahrscheinlich, seltene Varianten, die sich möglicherweise aufgrund ihrer schädlichen Folgen nicht verbreitet haben, dagegen besonders verdächtig.
Ein Beispiel für die Anwendung liefert ein zeitgleich veröffentlichter Artikel im Fachblatt „Genetics in Medicine“. Darin gleicht ein Team um Stuart Cook vom Imperial College London und Hugh Watkins von der University of Oxford die Daten von 7855 Patienten mit Kardiomyopathie, also Erkrankungen des Herzmuskels, mit der Datenbank ab. Ergebnis: Viele Genvarianten stehen vermutlich demnach zu Unrecht im Verdacht, zu Herzbeschwerden beizutragen, während andere Erbanlagen einen stärkeren Einfluss haben als bislang angenommen.
Viele molekulargenetische Fehldiagnosen verhindern
Klaus Zerres, der an der Veröffentlichung nicht beteiligt war, betont, bislang habe es Vergleichsdaten nur von einigen Tausend Menschen gegeben. „Die Größe dieses Kollektivs bietet jetzt die Möglichkeit, die Variabilität des menschlichen Genoms eingehender zu erforschen“, sagt der frühere Leiter des Aachener Instituts für Humangenetik.
Dadurch könne man nun sehr viel differenzierter klären, welche Genveränderungen zu Krankheiten beitragen könnten und welche unbedeutend seien. „Durch die große Datenmenge, die dieser Arbeit zugrunde liegt, können jetzt viele molekulargenetische Fehldiagnosen vermieden werden, frühere Interpretationen zur Zahl krankheitsverursachender Mutationen werden deutlich relativiert“, erklärt Zerres.
Arbeit fasst 14 Studien zusammen
Die Arbeit, die auf insgesamt 14 Studien beruht, liefere vermutlich den bislang tiefsten Einblick in die genetische Vielfalt des Menschen, schreibt Jay Shendure von der University of Washington in Seattle in einem „Nature“-Kommentar. Die Arbeit sei aus mehreren Gründen bemerkenswert: Allein die Zahl der Menschen und die Tiefe der Aufschlüsselung erlaube Rückschlüsse auf die Bedeutung von Genvarianten für Erkrankungen.
Zudem fördere die Datenbank die Entdeckung von Genen, die an extrem seltenen Erberkrankungen beteiligt sind. „Es bestehen kaum Zweifel daran, dass ExAC die Entdeckung solcher Gene und die klinische Genetik sowohl verfeinern als auch beschleunigen wird“, schreibt er. Ferner sei das Teilen dieser Daten unter verschiedenen Forschergruppen nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Errungenschaft. „Im kommenden Jahrzehnt wird die Zahl menschlicher Genome, die irgendwie sequenziert werden, auf mindestens zig Millionen steigen und bis zum Ende des Jahrhunderts sogar vielleicht Milliarden“, schreibt Shendure. (dpa)