Psychologie: Die Menschen neigen immer öfter zum Flunkern. Vor allem in Schulen hat der Betrug für bessere Noten zugenommen.

Wie oft lügt der Mensch? 200 Mal pro Tag, heißt es in vielen Vorträgen und Diplomarbeiten. Doch niemand weiß genau, woher diese Zahl stammt. Vielfach wird ein ominöser US-Forscher als Quelle benannt, der heißt mal Frazer, mal Fraser oder auch Frazier. Gut möglich, dass die weithin verbreitete Lügenzahl von 200 selbst eine Lüge ist.

Die amerikanische Psychologin Bella DePaulo ließ Versuchspersonen ein Tagebuch schreiben, über ihre Begegnungen mit anderen Menschen – und über all die kleinen Unwahrheiten, die dabei geäußert wurden. Die Analyse der Berichte ergab gerade mal zwei Lügen pro Tag – wobei DePaulo unterstellte, dass die Probanden ehrlich über ihre Lügen ausgesagt haben.

Eine andere US-Studie kommt zu dem Schluss, dass deutlich öfter gelogen wird als zwei Mal pro Tag. Vor allem in Situationen, in denen wir jemandem gefallen oder ihn beeindrucken wollen. Robert Feldman von der Universität Massachusetts in Amherst lud Studenten zu einem zehnminütigem Gespräch mit einem ihnen unbekannten Menschen ein, dem sie sich als sympathisch oder kompetent präsentieren sollten.

Das Treffen wurde aufgezeichnet und anschließend den Studenten vorgespielt, die dann selbst ihre Lügenquote einschätzen durften. 60 Prozent gaben dabei unumwunden zu, kleinere oder größere Lügen eingestreut zu haben.

Frauen mögen den Konsens

Zu den kleineren gehörte, dass man Sympathie für jemanden bekundete, den man eigentlich nicht ausstehen konnte. Zu den größeren gehörte, dass sich ein völlig unmusikalischer Student als Mitglied einer Rockband ausgab. Erzählt wurde dieses Märchen von einem der männlichen Probanden, die nachgewiesenermaßen eher zur Prahlerei neigten. Frauen hingegen trimmten ihre Aussagen eher auf Konsens mit dem Gesprächspartner – Lügen als sozialer Kitt. Doch ansonsten gab es zwischen den Geschlechtern keine besonderen Unterschiede. „Insgesamt waren die Studenten selbst überrascht, wie oft sie flunkerten“, berichtet Feldman. Ihre durchschnittliche Lügenquote lag bei 2,9 – in nur zehn Minuten.

Feldmans Studie gibt bereits einen Hinweis darauf, dass die Neigung zum Lügen weniger von der Persönlichkeit abhängt, als von den vorherrschenden Situationen. Es gibt offenbar weniger die Lügnerpersönlichkeit als das typische Lügnerumfeld. Wer etwa unter Leistungsdruck steht und sich rechtfertigen muss, wird eher flunkern und betrügen als jemand, der niemandem etwas beweisen muss.

So hat Feldman unter den 18- bis 34-Jährigen besonders viele Lügner ausgemacht, während im Seniorenalter sich zunehmend die Weis- und Wahrheit des Alters durchsetzt. Das gemeinnützige Josephson-Institut für Ethik in den USA kommt zu dem Schluss: „Der Betrug an der Schule ist längst zügellos geworden – und es wird immer schlimmer.“ In der jüngsten Untersuchung gaben 64 Prozent der Schüler zu, sich im vergangenen Jahr mindestens einmal eine gute Note in einem Test erschlichen zu haben. In Deutschland dürfte die Situation ähnlich aussehen. Dafür sprechen Webseiten, auf denen man lernen kann, wie man sich durch Prüfungen mogelt.

Junge lügen öfter als Alte

Die Jugend lügt also öfter als das gesetzte Alter, weil sie noch mehr Hindernisse auf dem Weg zu ihren Zielen umkurven muss. Doch es gibt auch noch andere Kriterien als das Alter, wie jetzt eine Untersuchung herausfand. Demnach neigen ausgerechnet Besserverdienende besonders stark zur Lüge. In Verhandlungssituationen spielten sie öfter mit gezinkten Karten, und im Wettbewerb um einen Preis scheuten sie sich nicht davor, die Regeln zu brechen und ihre Mitbewerber zu übervorteilen. Studienleiter Paul Piff von der University of California vermutet, dass sich in diesen besseren Kreisen bereits ein eigenes Wertesystem herausgebildet hat, in dem Gier höher bewertet wird als Wahrhaftigkeit.

Eine Untersuchung der Soziologin Jan Stets ergänzt dies: Die Bereitschaft zu Betrug hängt von den Wertvorstellungen der Kleingruppe ab, in der man sich vorzugsweise aufhält. Die für die Finanzkrisen verantwortlichen Spekulanten handelten demnach unethisch, weil sie in ihrem Umfeld keine Scham zu zeigen brauchten. Familie, Freunde, Kollegen und Kommilitonen entscheiden also letztlich, wer wie viel und wie schamlos betrügt. Staat, Religion und Gesellschaft spielen hingegen nur (noch) eine geringe Rolle.

Verabschieden sollte man sich aber von der Vorstellung, dass es sich bei Lügnern durchweg um verdorbene Gesellen handelt. Denn Menschen lügen, wie man an der Universität Amsterdam ermittelte, eher instinktiv als reflektiert. Der Psychologe Shaul Shavi ließ seine Probanden um Geld ein Würfelspiel spielen, bei dem man schummeln konnte. Für die Entscheidung, ob man für ein paar Euros schummeln sollte, bekamen die Probanden unterschiedlich viel Zeit. Das Ergebnis: Wer länger nachdenken konnte, bleibt eher bei der Wahrheit – das Gewissen braucht seine Zeit, bis es sich hörbar machen kann.

Umgekehrt könnte dies bedeuten, dass in einer Epoche mit zunehmendem Zeitdruck alles auf eine steigende Lügenquote hinausläuft. Tatsächlich fand eine Studie der University of Carolina, dass in E-Mails um etwa 50 Prozent mehr gelogen wird als im klassischen Brief – man schreibt am Rechner meist schneller, sodass auch schneller eine Lüge ihren Weg findet. Studienleiter Charles Naquin schließt daraus: „Steuererklärungen, die online ausgefüllt wurden, könnten deutlich mehr Betrügereien enthalten als solche, die auf Papier eingereicht werden.“

Die Pinocchio-Nase gibt es wirklich

Allerdings gibt es Ausnahmen von der Regel, dass mit der Spontaneität die Lügenquote steigt. Denn wenn etwa ein Beschuldigter vor Gericht oder im Polizeiverhör lügt, muss er Fachleute von einer kompletten, nämlich „seiner“ Geschichte überzeugen. Das klappt nur, wenn er sich ein stimmiges Lügengebilde zurechtzimmert. So etwas erfordert Kreativität, ein gutes Gedächtnis für die eigenen Gedankenkonstrukte und natürlich gute Nerven. Wer das mitbringt, kann bisher durch keinen Lügendetektortest zuverlässig überführt werden.

Wer nicht professionell zu lügen gelernt hat, den kann man aber durch genaues Hinsehen entlarven. Typische Reaktionen sind: Die Lügner müssen schlucken, sie fassen sich an die Nase oder fahren sich über das Gesicht, um ihre Mimik zu verschleiern. Sie werden rot und beginnen zu schwitzen, weil ihr Blutdruck unter Stress steigt. Einen neuen Lügentest schlägt Alan Hirsch von der amerikanischen „Smell & Taste Treatment & Research Foundation“ vor. Er basiert darauf, dass beim Lügen mehr Blut in die Nase läuft als sonst. Das könne man messen. Es gibt ihn also doch, den Pinocchio-Effekt.