Diplomatie ist die Kunst der leisen und feinen Tönen. Normalerweise jedenfalls – allerdings nicht am 19. Mai 1980. Da rief Italiens Staatspräsident Alessandro Pertini den deutschen Botschafter in Rom, Hans Arnold, abends zu Hause an, um ihm die Meinung zu sagen. Natürlich hatte sich der erfahrene Karriere-Diplomat nicht persönlich daneben benommen. Vielmehr musste Arnold ausbaden, dass er der Vertreter von Bundeskanzler Helmut Schmidt in Italien war. Der Präsident sagte dem Botschafter, "im Sinne unserer freundschaftlichen persönlichen Kontakte" wolle er ihm "ganz offen die Meinung sagen". Das war für einen Dialog unter Staatsrepräsentanten schon eine ungewöhnliche Einleitung.
Doch was dann kam, dürfte Arnold noch weit mehr überrascht haben: "In vehementen Worten" machte Pertini nämlich seinem "Ärger über den Alleingang des französischen Staatspräsidenten Luft". Schon in einem früheren direkten Gespräch mit Schmidt hatte Pertini gewütet, er werde Valery Giscard d’Estaing "nie mehr empfangen und seinen Fuß nie über die Schwelle des Elysée-Palasts setzen".
Pertini entrüstete sich weiter, "er könne nicht zulassen, dass sein Vaterland gedemütigt werde, wie Giscard es demütigen will". Hans Arnold analysierte für seine Vorgesetzten im Auswärtigen Amt in Bonn, wobei er sich ganz diplomatisch dezent gab: "Der Anruf von Pertini reflektiert die tiefe Betroffenheit, Verletztheit und Verärgerung, die in den politisch maßgeblichen Kreisen Italiens durch den Ausschluss aus den Gipfelbegegnungen (Vierertreffen) hervorgerufen worden sind. Es dürfte zumindest teilweise auch als ein entsprechendes Signal an die Bundesregierung zu verstehen sein."
Pertini beschimpfte den deutschen Botschafter, weil Kanzler Schmidt eng befreundet war mit dem französischen Staatspräsidenten, beide gemeinsam sogar die damalige Europäische Gemeinschaft politisch dominierten. Der Tonfall der internationalen Beziehungen ist eben längst nicht immer so förmlich bis unterkühlt, wie man das von offiziellen Communiques kennt. In Wirklichkeit ist solche Wortwahl weniger ungewöhnlich, als man seit der Berichterstattung über die von Wikileaks veröffentlichten aktuellen US-Depeschen glauben mag. Das lehrt ein Blick in die internationalen Editionen von diplomatischen Papieren, die in allen großen westlichen Demokratien meist nach 30 Jahren Sperrfrist erscheinen.
Dieser Tage wird der neueste Band der "Akten zur auswärtigen Politik Deutschlands" ausgeliefert (Oldenbourg, München. 2206 Seiten, 148 Euro). Er enthält neben der Episode um Pertini und seinen abendlichen Wutausbruch weitere Beispiele für die offene Wortwahl, derentwegen diplomatische Berichte zu Recht für eine längere Zeit nach Entstehen gesperrt bleiben sollten. Denn wer fürchten muss, dass seine vertraulichen Urteile umgehend von skandalgierigen Hackern veröffentlicht werden, wird sich auf inhaltsleere Floskeln beschränken.
So redete der heute als "elder statesman" gefeierte Helmut Schmidt gegenüber dem Ministerpräsidenten von Luxemburg Klartext, wie man das aktuell eher von Thilo Sarrazin kennt: "Das Stadtzentrum in Frankfurt sei auf dem besten Wege, sich zu einem abschreckenden Beispiel einer doppelten Verfremdung – Wolkenkratzer und amerikanischer Lebensstil sowie türkische Bevölkerung für die einfachen Dienste – zu entwickeln." Der Bundeskanzler warnte: "Wenn die Deutschen mit solchen Entwicklungen schneller konfrontiert werden, als sie sie verarbeiten können, besteht die Gefahr, dass sich eine gewisse Xenophobie entwickelt. Zurzeit jedenfalls ist der Zustrom ausländischer Einflüsse zu groß und die Abwehrmöglichkeiten – auf Grund unserer Erfahrungen in der Nazizeit – zu gering. Das zeigt sich z. B. im Asylrecht."
TV-Konsum zerstört Familien
Das Thema muss Schmidt bedrängt haben, denn er fügte es laut Protokoll in eine Diskussion über deutsch-luxemburgische Verstimmungen über die Medienpolitik ein – seinerzeit begann der Privatsender RTL aus dem Fürstentum gerade seinen Siegeszug. Schmidts Regierungssprecher Klaus Bölling bemühte sich umgehend, die Untiefen der Integrationspolitik wieder zu verlassen und betonte, "dass zur Zeit noch ein Konzept für eine Begrenzung der unerwünschten Einflüsse im Medienbereich fehle. RTL wolle nach unserem Eindruck rigoros auf ein Werbefernsehen hinaus".
Auch Schmidt geißelte das populäre Fernsehen: "Durch exzessiven TV-Konsum werden Familien zerstört und Heranwachsende gefährdet. In einer Vielzahl von oft beliebig ausgewählten Informationen wird ein falsches Bild der Wirklichkeit suggeriert, das dem wirklichen Leben nicht entspricht." Den "Wettlauf zu immer mehr Fernsehprogrammen verglich er mit dem Rüstungswettlauf: "Auch hier möchte er das nötige Gleichgewicht nicht auf dem Wege eines unbegrenzten Wettlaufs, sondern durch eine vernünftige Begrenzung hergestellt sehen."
Ohnehin war der Bundeskanzler in vertraulichen Gesprächen ein Freund klarer Worte. Als Nahum Goldmann, der Vorsitzende der Jewish Claims Conference, bei einem Gespräch im Bundeskanzleramt den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin mit den Worten zitierte, dieser sei "der Auffassung, dass Professoren ein Unglück für die Welt" seien, gab der Bundeskanzler trocken zurück: "Ausnahmsweise hat er recht." Ein solcher Spruch, umgehend in die Weltpresse lanciert, hätte zu schwersten politischen Erdbeben führen können.
Allerdings gab es auch schon anno 1980 Informationslecks. Am 8. Juli 1980 vermerkte der Ministerialdirektor Klaus Blech zur Unterrichtung für Außenminister Genscher mit dem Vorschlag zur Weiterleitung ans Bundeskanzleramt: "Die ,Welt‘ erklärte in ihrer Ausgabe vom 7. Juli, Seite 1, ihr seien ,jetzt die geheimen Einzelheiten des Geheimgespräches bekannt geworden, das Helmut Schmidt mit Leonid Breschnew über die Probleme der nuklearen Abrüstung geführt hat‘. Sie veröffentlicht einen Text, den sie als ,Protokollaufzeichnung‘ oder ,Protokollnotiz‘ bezeichnet."
Von den Sowjets mitgeschnitten
Der Leiter der wichtigen Politischen Abteilung versuchte, durch einen genauen Vergleich der unterschiedlichen vertraulichen Berichte und Protokolle dieser Gespräche herauszufinden, an welcher Stelle das Leck liegen könnte: "Die Veröffentlichung gibt im Ganzen den Inhalt des Teils des Gesprächs, auf den sie sich bezieht, zutreffend wieder." Jedoch sei sie "an keiner Stelle mit dem im Auswärtigen Amt am 2. Juli hergestellten endgültigen Protokoll identisch". Als Ergebnis des geradezu philologischen Textvergleichs kam Blech nur zu einem wenig befriedigenden Ergebnis: "Wir können nicht ausschließen, dass das Diktat des Entwurfs des Protokolls in der Botschaft Moskau von außen abgehört worden ist."
Tatsächlich vermuteten zahlreiche deutsche Spitzenbeamte, die "Welt" habe das Protokoll von den Sowjets bekommen. Darauf deuteten einige Formulierungen, die dem Sprachgebrauch der KPdSU entsprächen. Wer allerdings das Protokoll über das vertrauliche Gespräch des Bundeskanzlers mit dem sowjetischen Staatschef tatsächlich weitergegeben hatte, erfuhr das Auswärtige Amt nach Aktenlage offenbar nie.