London. Seit vielen Wochen blicken Wissenschaftler mit Sorge auf die Corona-Situation in Großbritannien, jetzt schlagen sie Alarm. „Wir befinden uns am Rand der Klippe“, sagte Matthew Taylor, Vorsitzender des Gesundheitsverbandes NHS Confederation, der das Gesundheitssystem in England, Wales und Nordirland repräsentiert, am Dienstag.
„Wir bräuchten ein unglaubliches Glück“, damit das Land in den kommenden drei Monaten „nicht in eine schwere Krise stolpert“, sagte er. Angesichts der drastisch steigenden Fallzahlen fordert er die Regierung auf, dringend zu „Plan B“ zu schreiten – der erneuten Verhängung von Restriktionen im öffentlichen Leben.
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Keine Beschränkungen in England – Lage verschlechtert sich
Auch der Ärzteverband British Medical Association (BMA) drängt zu schärferen Maßnahmen: „Als Ärzte, die an vorderster Front arbeiten, können wir kategorisch sagen: Jetzt ist die Zeit“, sagte der Vorsitzende Chaand Nagpaul.
Die Lage hat sich in der vergangenen Woche deutlich verschlechtert, besonders in England, wo seit Juli keinerlei Beschränkungen mehr gelten. Am Mittwoch wurden im ganzen Land fast 50.000 Neuinfektionen gemeldet, die höchste Zahl seit dem Hochsommer. Am Dienstag starben 223 Menschen an den Folgen des Coronavirus – so viele wie zuletzt im März.
Zudem breitet sich die Corona-Variante AY4.2 aus, die laut Studien noch ansteckender ist als die herkömmliche Delta-Mutante. In Großbritannien ist diese Mutation schon für sechs Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich. Tendenz stark steigend.
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Jeden Tag mehr als 800 neue Covid-19-Patienten
In den Kliniken spitzt sich die Lage zu, jeden Tag werden mehr als 800 Covid-19-Patienten eingeliefert. Das Personal ist zunehmend unter Druck. Laut Amanda Pritchard, der Chefin des Gesundheitsdienstes NHS England, hat die wachsende Zahl von Covid-19-Patienten unter anderem zur Folge, dass andere medizinische Behandlungen verschoben werden müssen. Derzeit warten 5,7 Millionen Menschen in England auf eine Behandlung im Krankenhaus, ein absoluter Rekord.
Dass die Fälle und auch die Hospitalisierungen derzeit so stark ansteigen, hat nicht zuletzt mit dem schwindenden Impfschutz zu tun. Laut Studien nimmt der Schutz der Covid-19-Impfungen nach einigen Monaten ab: Astrazeneca schützt anfangs zu 77 Prozent, nach vier bis fünf Monaten sind es aber nur noch 67 Prozent.
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Vor allem mit dem Vakzin von Astrazeneca geimpft
Weil Großbritannien Anfang 2021 mit seiner Impfkampagne schnell aus den Startlöchern kam, spürt es jetzt diesen Rückgang früher als andere Länder: „Dass wir so früh waren, bedeutet, dass wir jetzt etwas anfälliger sind“, sagte der Immunologe Neil Ferguson vom Imperial College London.
Auch die Tatsache, dass in Großbritannien vor allem mit dem Vakzin von Astrazeneca geimpft wird, das einen etwas schwächeren Schutz bietet als beispielsweise das von Pfizer, spielt dabei eine Rolle.
Programm zur Auffrischungsimpfung stockt
Umso dringender ist es, älteren und gefährdeten Menschen schnell eine dritte sogenannte Booster-Impfung zu geben. Aber dieses Programm stockt: Seit Beginn der Booster-Impfungen vor vier Wochen sind weniger als vier Millionen Dosen verabreicht worden. Fast fünf Millionen Briten über 50 warten noch auf ihre Impfung, und in den Pflegeheimen sind zwei Drittel der Patienten noch ohne Booster.
Laut NHS-Chefin Amanda Pritchard zögern viele, nachdem sie die Einladung bekommen haben. Bei der ersten und zweiten Impfung meldeten sie sich ganz schnell. Zu Beginn des Impfprogramms wurden an manchen Tagen 600.000 Dosen verabreicht – jetzt nur noch ein Drittel davon.
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Appell an die Johnson-Regierung
Matthew Taylor warnte, dass das Land riskiere, in eine „Winterkrise“ zu schlittern, wenn die Regierung nicht sofort scharfe Maßnahmen ergreift. Er riet dringend zu „Plan B“, der etwa eine Maskenpflicht in Innenräumen, die Anweisung, wo möglich von zu Hause aus zu arbeiten sowie Impfpässe für größere Anlässe umfasst.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern gibt es in England seit dem „Freedom Day“ im Juli keinerlei Vorschriften. Der kommende Winter könnte der schwierigste werden, den der NHS je erlebt hat, warnte Taylor.
London gibt sich betont gelassen
Aber die Regierung von Boris Johnson verhält sich so wie schon oft während der Pandemie: Sie gibt sich betont gelassen. Am Mittwoch trat Gesundheitsminister Sajid Javid erstmals seit vielen Wochen vor die Presse – aber er bekräftigte lediglich seine Absicht, keinerlei Maßnahmen zu ergreifen.
Zum Alternativplan will die Regierung erst dann übergehen, wenn die Belastung des Gesundheitsdienstes zu groß wird. Javid warnte zwar: „Diese Pandemie ist noch nicht vorbei.“ Aber er beschwichtigte: „Wir glauben nicht, dass der Druck, dem der NHS ausgesetzt ist, unhaltbar ist.“
Widerspruch zu vielen Gesundheitsexperten
Damit steht Javid zunehmend im Widerspruch zu vielen Gesundheitsexperten. Chaand Nagpaul von der BMA bezeichnete die Weigerung, Beschränkungen zu verhängen, als „grobe Fahrlässigkeit“. Um die Verbreitung von Covid-19 einzudämmen, sollte die Regierung etwa eine Maskenpflicht, Social Distancing und regelmäßige Durchlüftung in belebten Innenräumen anordnen.
„Dies sind Maßnahmen, die in anderen Ländern die Norm sind“, so Nagpaul. „Wir gehen schnell auf eine Situation zu, in der die Regierung erneut zu lange zögert.“
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