Hamburg. Man hatte die Mitteilung seit einiger Zeit beinahe täglich erwartet. Und als sie dann am Freitag raus war, die Sache mit dem Literaturnobelpreis und seiner Aussetzung, da war das Urteil einstimmig.
„Wir halten es für nötig, Zeit zu investieren, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Akademie wieder herzustellen, bevor der nächste Preisträger verkündet werden kann“, hatte der Interims-Vorsitzende Anders Olsson der Schwedischen Akademie am Freitag verlauten lassen. Und gleichzeitig eine zunächst durchaus überraschende Erklärung zum Prozedere gegeben: Nach dem handfesten Skandal um sexuelle Übergriffe, Vorteilsnahme und Geheimnisverrat wird es durchaus einen Nobelpreisträger 2018 geben. Verkündet wird er aber erst im kommenden Jahr, zeitgleich mit dem von 2019. Ob dann mit einem Doppelschlag die Reputation wiederhergestellt wird, bleibt abzuwarten. Aber die Ehrung eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin durch diese in ihren Grundfesten erschütterten Akademie regulär in diesem Herbst? Diese Vorstellung war undenkbar.
Nicht nur in Schweden wurden die Vorgänge um die 1786 gegründete Akademie zuletzt heftig diskutiert. Die ganze Welt nahm daran teil, wie sich diese kulturell hochwohlgeborene Elitetruppe der Literatur in höchstem Maße kompromittierte. Dabei war es der Zeitgeist, der jetzt auch durch hehren Hallen der Schwedischen Akademie fegte.
Der Nobelpreis, diese höchste aller Literaturehren, nahm vor allem Schaden, weil Frauen nicht mehr schweigen, wenn Männer unerwünscht Grenzen überschreiten. 18 Frauen haben dem Mann von Akademiemitglied Katarina Frostenson vorgeworfen, sie belästigt oder missbraucht zu haben. Es geht um Frauen aus dem Kulturbetrieb, dem Umfeld der Akademie – und um die schwedische Kronprinzessin Victoria, die ihr Erlebnis mit dem Mann jetzt öffentlich machte. Außerdem soll dessen Frau über Fördergelder für den eigenen Kulturverein mitverfügt haben. Bekannt war das alles teilweise seit Jahrzehnten. Carl XVI. Gustaf, Schirmherr der Schwedischen Akademie, verfolgte die immer neuen Volten „mit großer Unruhe“ und nahm jene gleichzeitig in die Verantwortung. Leider erfolglos. Für Kopfschütteln und Verdruss sorgte die Dezimierung der Jury, die sich aus Uneinigkeit darüber ergab, wie mit den Vorwürfen in Richtung eines der Jurymitglieder und ihres Ehemanns umzugehen war.
Mittlerweile besteht die Jury statt aus 18 nur noch aus zehn Mitgliedern. Unterhaltsam war das Intrigantenstück der vergangenen Monate zwar, aber manch einer wollte sich am Ende doch nur noch mit Grausen abwenden.
Auch die Nobelstiftung, die das Preisgeld für alle fünf Nobelpreise verwaltet, äußerte sich am Freitag und unterstützte die Entscheidung der Akademie. Eine Ausnahme von der jährlichen Vergabe könne dann gerechtfertigt sein, heiß es, „wenn eine der preisverleihenden Institutionen in einer so gravierenden Lage ist, dass eine Preisentscheidung nicht als glaubwürdig vorgenommen würde“. Der Nobelpreis für Literatur wird seit 1901 vergeben. Zuletzt wurde zwischen 1940 und 1943 wegen des Zweiten Weltkriegs kein Schriftsteller geehrt.
Während nun versucht wird, den Renommee-Totalschaden durch Verschiebung abzuwenden, droht die Aura des Preises allemal verloren zu gehen. Als 2016 die Musiklegende Bob Dylan, der als Songtexter auch ein großer Dichter ist, den Nobelpreis zuerkannt bekam, wollten nicht alle diese Öffnung der Literatur in Richtung Pop nachvollziehen, erst recht nicht, als Dylan nicht zur Preisverleihung anreisen mochte. Der Literaturnobelpreis strahlt und glänzt derzeit nicht mehr.
Und so ist der Aussage der Akademie, „die Arbeit an der Auswahl werde in den kommenden Monaten auch weitergehen“, vorerst mit Misstrauen zu begegnen: Zehn Juroren machen eben keinen Preisträger. Man wolle „mehr Mitglieder an der Entscheidung beteiligen“, heißt es vieldeutig. Dass nach den Verwerfungen Jurykollegen zurückkehren, erscheint unwahrscheinlich. Der König hat bereits Mitte April die Modernisierung der Institution auf den Weg gebracht. Künftig ist niemand mehr Jurymitglied auf Lebenszeit, sondern kann nach zwei passiven Jahren ersetzt werden.