Einst weit verbreitet, war der Biber gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa fast vollständig ausgerottet worden. Grund war sein dichter Pelz, der nicht nur bei der Herstellung wärmender Mäntel und Jacken Verwendung fand, sondern wegen seiner feinen Wollhaare auch bei der Hutherstellung äußerst begehrt war. Außerdem bejagte man den Biber intensiv, um das sogenannte Bibergeil oder Castoreum zu gewinnen, eine bräunliche, harzartige, fett- und hormonhaltige Substanz, die den Bibern sowohl zur Fellpflege als auch zur Markierung ihres Reviers dient. Dem Bibergeil wurden nahezu magische Kräfte nachgesagt. Und da es vielseitig verwendbar war, wurde es noch vor hundert Jahren mit Gold aufgewogen.
Das Bibergeil wird vom Biber in zwei etwa hühnereigroßen Drüsensäcken gebildet, die zwischen den Geschlechtsteilen und dem After liegen. Die Substanz besteht aus einem komplexen Gemisch chemischer Verbindungen, die wahrscheinlich im Zuge der Urinproduktion gebildet werden. Die Lage der Drüsen in der Nähe des Hinterns ist äußerst günstig, da Biber diese Stelle bequem mit den Vorderpfoten erreichen und dadurch das Bibergeil gut im Fell verteilen können, um es wasserdicht zu machen.
Es galt als Heilmittel
Um das Bibergeil zu gewinnen, musste das Tier getötet werden. Anschließend wurden ihm die Drüsen entnommen und rauchgetrocknet. Eine Art der Gewinnung, die heute nicht mehr möglich wäre, da der Biber bei uns zu den streng geschützten Arten gehört.
In erster Linie wurde Bibergeil als Heilmittel verwendet und gegen Kopfschmerzen, Fieber und sogar gegen Epilepsie eingesetzt. Es gibt keinen Beweis, dass Bibergeil einen medizinischen Nutzen hat. Allerdings vermutet man, dass Bibergeil Salizylsäure, also den Wirkstoff von Aspirin enthält, da Salizylsäure in der Lieblingsnahrung der Biber, Weidenrinde, reichlich enthalten ist. Heute wird Bibergeil nur noch in der Homöopathie eingesetzt.
Zudem wurde Bibergeil auch lange in der Parfümherstellung verwendet. Denn im Bibergeil sind mehrere Pheromone, sprich: Dufthormone, enthalten. In Alkohol gelöst, riecht Bibergeil ähnlich wie Moschus. Um es mit einem Duftexperten zu sagen: „Der Duft ist wild und körperlich, lustvoll und leidenschaftlich und verleiht seinem Träger eine zarte Aura von Sinnlichkeit.“ Last but not least versprach man sich vom Bibergeil auch noch, dass es müde Männer wieder munter macht. Bibergeil war – nomen est omen – als Aphrodisiakum hochgeschätzt. Es sollte angeblich den Geschlechtstrieb gewaltig ankurbeln und war deshalb oft Bestandteil von Liebestränken. Neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge könnten die Tränke sogar Wirkung gezeigt haben. Im Bibergeil ist nämlich sehr wahrscheinlich ein Pheromon enthalten, das anregend auf das menschliche Sexualdrüsensystem wirkt.
Renaissance des Bibergeils
Im Augenblick gibt es in den USA eine kleine Renaissance des Bibergeils. Dort ist es nämlich als Aromastoff in Lebensmitteln zugelassen und als für den Genuss „unbedenklich“ eingestuft worden. Der „natürliche“ Aromastoff aus dem Biberhintern wird bevorzugt als Vanille- oder Erdbeer-Aroma verwandt. Das Analsekret eines Nagetiers als Geschmacks- und Duftstoff für Eiscreme und andere Köstlichkeiten: Das muss man sich im wahrsten Sinne des Wortes erst mal auf der Zunge zergehen lassen.
Heute gibt es zwei Möglichkeiten, Bibergeil zu gewinnen, ohne dass der arme Biber sein Leben lassen muss. In den USA gibt es spezielle Biberfarmen, in denen die Tiere das kostbare Sekret am Rande einer im Boden vergrabenen Dose abstreifen. Außerdem kann man bei der Bibergeilgewinnung heutzutage sogar völlig ohne Biber auskommen. Bibergeil kann man nämlich, da mittlerweile alle chemischen Bestandteile ermittelt wurden, vollständig künstlich im Labor herstellen.
Dr. Mario Ludwig ist Biologe und einer der bekanntesten Tierbuchautoren Deutschlands. Er schreibt an dieser Stelle über Phänomene in der Tierwelt.