Hamburg

Jugendhilfe schickt Pflegekind in einen Wanderzirkus

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André Zand-Vakili

Ein 11-Jähriger hat einen Kleintransporter gestohlen und ist damit nach Hamburg gefahren. Die Geschichte von Jeremie.

Er hatte alles einfach satt, insbesondere seine Pflegeeltern. Jeremie A. wollte endlich zurück nach Hamburg, in seine alte Heimat. Deshalb stahl er in Lübtheen (Mecklenburg-Vorpommern) den Kleintransporter der Familie und fuhr damit mehr als 100 Kilometer weit in die Hansestadt. Was den Fall so besonders macht: Der Junge ist erst elf Jahre alt. Und er sollte es, so dachten es sich die Behörden, bei seiner Pflegefamilie eigentlich besser als zuvor haben.

Die Eltern drogensüchtig. Die Großeltern überfordert. Der Wohnort Billstedt, ein Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt. Das Zuhause, das Jeremie in Hamburg hatte, war nicht das Beste. Der Junge glitt ab und hatte Ärger mit der Polizei, weil er Scheiben einschlug oder im Wagen seines Vaters unterwegs war. Schließlich erwischten ihn die Beamten mit einer Gaswaffe im Hosenbund auf dem Hamburger Dom. Da war Jeremie noch keine zehn Jahre alt.

Das zuständige Jugendamt entschied: Jeremie kommt in eine Pflegefamilie. Über einen freien Träger wurde er bei einem Zirkus in Obhut gegeben. Mit dieser besonderen Art der Unterbringung sollen schwierige Kinder erreicht werden. Das war vor rund zwei Jahren. Die Pflegemutter ist Chefin eines kleinen Zirkus’, der seinen Sitz in Lübtheen hat. Im Winter bezieht er dort Quartier.

Es ist eines der letzten kleinen Familienunternehmen der Branche. Rund 20 Köpfe zählt die Zirkus-Crew. Dazu kommen Tiere, Kamele, Esel oder auch Hunde, die in der Manege ihr Können zeigen. Ausgesucht hat den Zirkus der „Neukirchener Erziehungsverein“ aus Nordrhein-Westfalen, der der Diakonie angebunden ist. Er ist ein „Big-Player“ in der Branche. „Seit über 166 Jahren hilft der Neukirchener Erziehungsverein vernachlässigten und missbrauchten Kindern sowie Familien mit Erziehungsschwierigkeiten“, schreibt die Einrichtung in der Selbstbeschreibung über sich.

Die Unterbringung, die für Jeremie gewählt wurde, nennt deren Sprecher Ulrich Schäfer „Individualpädagogik“, anderer nennen den Ansatz „Erlebnispädagogik“. Sie soll Kinder und Jugendliche erreichen, die in klassischen Heimen nicht zu bändigen sind. Neben der Unterbringung im Zirkus gibt es auch Plätze auf Pferdehöfen oder sogar bei rollenden Stuntshows. Die Kinder und Jugendlichen sollen dort wieder Vertrauen und Verantwortung lernen. Es kam anders. Für Jeremie war der Zirkus die Hölle, glaubt man seiner Mutter Patricia A. (47). „Er hat oft weinend angerufen“, erzählt sie. Von Schlägen, die der Junge bekommen haben soll, ist die Rede. Auch zum Diebstahl von Diesel soll er angestiftet worden sein. Seine Großmutter Rositta spricht von harter Arbeit, die das Kind verrichten musste. Demnach gehörte das morgendliche Ausmisten der Ställe zu seinen Pflichten. Außerdem seien viele Pflegekinder im Zirkus untergebracht, so die Familie.

Der Junge wollte weg

In Lübtheen sieht die Welt ganz anders aus. Zumindest bei den Mitarbeitern des Zirkus’. Jeremie sei das einzige Pflegekind, und ausgenutzt worden sei der Junge auch nicht. Dort wird gemutmaßt, dass ein größerer Bruder oder ein Verwandter aus Hamburg den Jungen abgeholt hat. Die kaputte Servolenkung an dem Kastenwagen sei doch für ein Kind viel zu schwergängig.

Was wirklich stimmt, müssen nun die Behörden prüfen. Sicher ist: Der Junge wollte weg. Er war schon ein Jahr länger dort, als ihm gesagt wurde. Dann erfuhr er noch, dass er Weihnachten nicht zu seinen Großeltern darf. Am Dienstag fuhr Jeremie mit dem Mercedes davon. Im Hamburger Stadtteil Billstedt stellte er den Wagen ab. Weil der Kleintransporter im Halteverbot stand, fiel er am Mittwoch der Polizei auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte seine Pflegemutter bereits Vermisstenanzeige erstattet. Rund um Lübtheen suchten Einsatzkräfte der Polizei nach dem Kind. Auch ein Hubschrauber wurde eingesetzt, um die Waldgebiete abzusuchen, in denen sich auch ein Truppenübungsplatz befindet. Mittlerweile ist klar, dass Jeremie sich in Hamburg aufhält. Von hier rief er seinen Großvater an. Wo er ist, wollte er nicht verraten.

„Wir fahnden intensiv nach dem Kind“, sagt Hauptkommissarin Karina Sadowsky von der Hamburger Polizei. Zunächst hatte man gehofft, den Jungen auf dem gerade stattfindenden Hamburger Dom zu treffen. Vielleicht hält er sich auch bei Verwandten auf. Bei den Hamburger Behörden sorgt der Fall für Unbehagen. Immer wieder ist es in der Hansestadt zu Tragödien mit Kindern gekommen, für die das Jugendamt verantwortlich war. Anfang des Jahres war die damals elfjährige Chantal in der Wohnung ihrer Pflegeeltern an einer Überdosis Methadon gestorben.

Drogensüchtige Pflegeeltern

Erst nach Tagen kam heraus, dass das kleine Mädchen ihrem drogensüchtigen Vater weggenommen worden war, um dann zu zwei ebenfalls drogensüchtigen Pflegeeltern gegeben zu werden, die im Methadonprogramm sind. Der Tod des Mädchens führte zum Rücktritt eines Bezirksamtsleiters. Erneut gerät der Bezirk Hamburg-Mitte auch politisch unter Druck. Mit einer Kleinen Anfrage wollen die Grünen „die ungewöhnlichen Umstände der Unterbringung und die Verantwortung des Jugendamts“ klären, heißt es in einer Mitteilung vom Donnerstag. Die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Christiane Blömeke, erklärte: „Erlebnispädagogik ist ein wichtiger Baustein der Jugendhilfe, aber die Unterbringung eines Elfjährigen in einem Wanderzirkus muss schon sehr gut begründet sein. Gerade, wenn ein Jugendamt ein Kind an einen Träger außerhalb Hamburgs übergibt, erwarte ich, dass die Kontrolle der Hilfemaßnahme besonders engmaschig ist.“ Sie habe starke Zweifel, dass das Jugendamt Hamburg-Mitte seine Obhuts- und Kontrollpflicht ausreichend ausgeübt habe.