Erneut ist es in der Türkei zu einem verheerenden Erdbeben gekommen: Mindestens zehn Menschen kamen bei den Erstößen der Stärke 5,6 am Mittwochabend ums Leben, wie der türkische Katastrophenschutz am Donnerstag mitteilte. Mehr als 800 Einsatzkräfte suchten in den Trümmern nach Überlebenden.
Der Katastrophenschutz richtete eine Luftbrücke ein, 23 Flugzeuge lieferten Hilfspersonal und Material in die Region. Bis zum Mittag konnten die Rettungskräfte 27 Überlebende aus den Trümmern bergen, wie der türkische Vize-Ministerpräsident Besir Atalay bei einem Besuch vor Ort sagte. Unter den Toten war auch ein japanischer Helfer, der kurz nach seiner Bergung seinen schweren Verletzungen erlag.
Atalay betonte, 23 der 25 eingestürzten Gebäude hätten bereits seit dem schweren Beben am 23. Oktober leer gestanden. Die Rettungsarbeiten konzentrierten sich daher auf zwei zerstörte Hotels. Eines davon soll laut einem Bericht des Fernsehsenders NTV vor allem von Journalisten und Mitarbeitern der Hilfsorganisation Roter Halbmond bewohnt gewesen sein.
Unklar war, wieviele Menschen noch unter den Trümmern sein könnten. Laut Atalay gab es unterschiedliche Angaben. Auf Überwachungskameras sei zu sehen, dass einige Menschen noch aus den Hotels herausgelaufen seien, bevor diese einstürzten, sagte der Vize-Regierungschef nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu.
Schicksalhafte Kombination aus Geografie und Geschichte
Klar ist: Es wird wohl ewig Erdbeben und wohl auch Tote dabei geben. Denn die Türkei sieht sich mit einer schicksalhaften Kombination aus Geografie und Geschichte konfrontiert. Das Land liegt an den Grenzlinien der anatolischen, der afrikanischen, der eurasischen und der arabischen tektonischen Platten. Zugleich wurden die Bauvorschriften über Jahrhunderte kaum verändert.
Nach den verheerenden Erdbeben vor einem Jahrzehnt, bei denen 18.000 Menschen ums Leben kamen, wurden die Sicherheitsvorschriften verschärft. Doch trotz eines allgemeinen Aufschreis über die schlechte Bauqualität blieb die Umsetzung mangelhaft.
Nach dem Erdbeben vom Oktober 2011 mit einer Stärke von 7,2 berichteten Einwohner der am schwersten betroffenen Stadt Ercis, dass an einigen der eingestürzten Gebäude Stahlträger und ausreichender Beton gefehlt hätten. Sie beschuldigten die Bauherren, die Sicherheit zugunsten von Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit zu vernachlässigen.
„Der Tod kommt von Gott. Aber was ist mit schlechter Bausubstanz?“ fragte damals einer der betroffenen Bürger. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan selbst schaltete sich ein und führte die hohen Opferzahlen auf minderwertige Konstruktionen zurück. Die Türkei habe aus den Katastrophen der Vergangenheit nichts gelernt. „Wir sehen, dass die Menschen den Preis für Beton bezahlen, der praktisch zu Sand zerfiel, und für weiche Fundamente“, sagte Erdogan. „Stadtverwaltungen, Konstrukteure und Kontrolleure müssen erkennen, dass ihre Nachlässigkeit Mord gleichkommt.“
Einhaltung verschärfter Vorschriften wurde nicht überprüft
Serdar Harp, der Vorsitzende der türkischen Ingenieurskammer, berichtete, dass Gebäude, die vor dem Januar erbaut wurden, nicht sorgfältig überprüft worden seien. Und das trotz der verschärften Vorschriften nach den schlimmen Erdbeben um die Jahrtausendwende im Westen der Türkei. Viele der damaligen Opfer starben in billig hochgezogenen Häuserblocks, die niemals überprüft wurden. Untersuchungen ergaben später, dass in dem Beton oft Eisengewebe fehlte oder dass er mit so viel Sand gemischt worden war, dass er instabil wurde.
Schon vor Jahren hatte ein Bericht für das Parlament aufgezeigt, dass die Behörden bei der Anwendung neuer Bauvorschriften versagt haben. Sie sahen eigentlich vor, dass nicht gebaut werden darf, bevor die Pläne von autorisierten Architekten ausgearbeitet und die Bauingenieure von Inspektoren bestätigt werden. Auch müssten zugelassene Ingenieure die Bauarbeiten überwachen und sicherstellen, dass der Zement stark genug ist und ausreichende Stahlträger verwendet werden.
Versäumnisse auch in der Stadtplanung
Der Parlamentsbericht bemängelte auch, dass die Türkei es versäumt habe, die Stadtplanung zu verbessern und schlechte Bausubstanz zu verstärken. Die Stadtentwicklung werde nicht kontrolliert und es werde versäumt, Leute zu bestrafen, die die Bauvorschriften verletzten. Der Bericht warnte: Mehrere türkische Städte seien in Gefahr.
In erster Linie betrifft das die 15-Millionen-Metropole Istanbul, die auf einer Erdbeben-Bruchstelle liegt. Geologen haben die Stadtverwaltung gedrängt, 40.000 Gebäude abzureißen, die bei einem großen Beben zusammenbrechen würden. Weitere Tausende müssten verstärkt werden.
Einige Experten wiesen jedoch darauf hin, dass Erdbeben mit einer Stärke von 7,2 auch solide gebaute Häuser einstürzen lassen könnten. Mishac Yegian, Professor an der Universität von Boston, schlug vor, Ruinen und stehen gebliebene Häuser nach den Beben genau zu untersuchen, um herauszufinden, welche Mängel zu den Katastrophen beigetragen hätten. „In einem frühen Stadium neigen die Leute dazu, Pläne und Qualität der Bauten verantwortlich zu machen“, sagte Yegian.
In der Türkei sind mittlerweile Erdbeben-Versicherungen für Häuser Vorschrift. Nach Angaben des staatlichen Katastrophenversicherungs-Verbands sind aber nur drei von 18 Millionen Gebäuden versichert. In der Osttürkei sind es demnach nur 2,8 Prozent.